Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
sie. Gleichgültig, welches Hindernis sich auch vor dir auftürmen mag, geh weiter und überwinde es.«
Strebe nach den höchsten Gipfeln, dachte ich unwillkürlich. Das war auch Lukes Rat gewesen.
»Ich werde in deiner Nähe sein, Annie. Ich fahre heute nach Boston zurück und werde dich dort im Krankenhaus besuchen. Natürlich ist es für dich unmöglich, jetzt über all das nachzudenken, weil es viel zu schnell geht, aber bitte vertraue denen, die dich lieben. Bitte!« sagte er.
Ich atmete tief durch und ließ meinen Kopf auf das Kissen sinken. Das Gewicht der ganzen Welt schien auf mir zu lasten.
Meine Lider waren wieder schwer geworden, und ich fühlte mich benommen und müde. Vielleicht würde ich einschlafen, und wenn ich wieder aufwachte, würde sich herausstellen, daß alles nur ein furchtbarer Alptraum war, hoffte ich.
Ich würde mich wieder in meinem Zimmer in Hasbrouck House befinden. Es wäre Morgen, und Mammi würde wie immer voller Energie ins Zimmer kommen, um mit mir zu besprechen, was wir an diesem Tag unternehmen würden. Unten würde Daddy beim Frühstück sitzen und das Wall Street Journal lesen. Ich würde duschen, mich anziehen und die Treppe hinabstürmen, um einen neuen, wundervollen Tag zu begrüßen. Daddy würde mir einen Abschiedskuß geben, ehe er in die Fabrik ging, so wie er es jeden Tag tat.
»Roland hat mein Frühstück vorbereitet«, murmelte ich.
»Was?« sagte Drake.
»Ich muß schnell essen, damit wir losfahren können. Mutter und ich gehen einkaufen. Ich brauche ein neues Kleid für Maggie Templetons Geburtstagsparty, und wir wollen ein ausgefallenes Geschenk für sie finden. Mach dich nicht über uns lustig, Drake. Ich sehe sehr wohl, daß du lachst.«
»Annie…« Er legte seinen Arm um meine Schultern und zog mich ein wenig hoch, doch ich konnte die Augen nicht offenhalten, und so bettete er meinen Kopf vorsichtig auf das Kissen.
»Die Spielzeughütte ist… so wunderschön… so wunderschön… – danke, Mammi. Ich werde sie immer lieben, immer…«
»Annie…«
»Was ruft Daddy da immer wieder? Daddy, hör nicht auf, mich zu rufen, bitte, Daddy.«
Dann umfing mich der warme, tröstende Schlaf, linderte mein Leid und schütze mich vor dem häßlichen, furchtbaren Licht, das in meine Träume einbrechen und alles zerstören wollte.
»Wir dürfen das nicht tun, Luke… nein, ich weiß… strebe nach den höchsten Gipfeln… der Blick… der Blick…«
»O Annie, du mußt wieder gesund werden«, flüsterte Drake, und seine Hand umschloß die meine. Aber in meinem Traum war es Lukes Hand, und wir liefen über den Rasen zu unserem Paradies, in dem alles möglich war und wo ich mich wieder in Sicherheit fühlte. Und dann versank ich in tiefen Schlaf.
Als ich aufwachte, erblickte ich die Krankenschwester und einen großen, dunkelhaarigen Mann mit rötlichbraunem Schnauzer und haselnußbraunen Augen. Er hielt meine Hand und lächelte mich an.
»Hallo«, sagte er, »ich bin Doktor Malisoff und werde mich um Sie kümmern, bis Sie wieder gesund sind.«
Ich sah zu ihm auf, und sein Gesicht gewann immer schärfere Konturen, bis ich sogar die dünnen, kleinen Falten erkennen konnte, die sich quer über seine Stirn zogen, als ob sie mit einem feinen Stift gezeichnet wären.
»Was ist mit mir los?« fragte ich. Meine Lippen waren so trocken, daß ich sie ständig mit der Zunge benetzen mußte. Statt mir zu antworten, wandte er sich dem jüngeren Arzt zu, der an seiner Seite stand. Er hatte blondes Haar, und eine sehr helle Haut. Seine Wangen waren von winzigen Sommersprossen übersät.
»Mein Assistent, Doktor Carson. Wir werden uns gemeinsam um Sie kümmern.«
Der jüngere Arzt nickte mir zu und vertiefte sich dann in das Krankenblatt, das ihm die Schwester entgegenhielt. »Und dies ist Mrs. Broadfield, Ihre Schwester. Sie wird von jetzt an bei Ihnen bleiben, bis zu dem Tag, an dem Sie wieder gesund genug sind, um allein klar zu kommen.«
»Hallo, Annie«, sagte Mrs. Broadfield, und ein Lächeln erhellte für den Bruchteil einer Sekunde ihr rundes, grobgeschnittenes Gesicht, das von kurzem, schwarzem Haar umrahmt wurde. Ihre Schultern waren so breit wie die eines Mannes.
»Wo ist Drake?« fragte ich und erinnerte mich vage, daß er mir erzählt hatte, er müsse nach Boston zurückkehren.
»Drake?« fragte Dr. Malisoff. »Im Warteraum sind zwei Personen, die Sie besuchen wollen. Die eine ist Ihre Tante Fanny, und ich nehme an, daß der andere ihr Sohn ist?«
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