CATCH - Stunden der Angst: Thriller (German Edition)
gefunden hatte, war für ihn ein absolutes Rätsel. Sie hätte doch wirklich jeden haben können.
Eine Zeitlang saß er da mit dem Handy in der Hand und Cates Nummer auf dem Display. Nur einen Tastendruck davon entfernt, den Kontakt herzustellen. Es war ein angenehmer Tagtraum, solange er die Illusion aufrechterhalten konnte, dass er es tatsächlich tun könnte. Und als er dann entschieden hatte, es nicht zu tun, trauerte er der entgangenen Gelegenheit noch eine ganze Weile nach.
Es gab eine Menge Gründe, die dagegen sprachen. Sie könnte glauben, er sei bereit, Hayley zu betrügen – etwas, was sie nach der Erfahrung mit Martins Untreue bestimmt missbilligen würde.
Und dann waren da die Lügen, die Täuschung, die er aufrechterhalten müsste, auch wenn Cate noch so starke Zweifel äußerte. Denn in einem hatte Robbie recht: In Cates eigenem Interesse war es von größter Wichtigkeit, dass sie über Hank O’Briens Tod im Dunkeln gehalten wurde.
Bei Louis lief immer noch laute Musik. Dan machte sich ein zweites Bier auf und sah sich ein paar der Comedy-Sendungen an, die er normalerweise unterhaltsam fand, doch heute konnte er über die Witze überhaupt nicht lachen. Hatte irgendetwas ihn seit Dienstagabend zum Lachen bringen können? Er bezweifelte es.
Er geriet allmählich in eine weinerlich-sentimentale Stimmung, und ausnahmsweise kämpfte er nicht dagegen an, sondern ging ins Esszimmer, um ein Fotoalbum zu holen. Ganz vorsichtig, als hätte er es mit einem hochexplosiven Sprengsatz zu tun, legte er es auf dem Couchtisch ab und rückte ein Stück zurück, um es aus sicherem Abstand betrachten zu können, ehe er es aufschlug.
Es war viele Monate her, dass er sich diese Bilder zuletzt angeschaut hatte. Die meisten zeigten seine Eltern in den ersten Monaten ihrer Ehe – noch vor Dans Geburt oder mit ihm als Säugling. Es schockierte ihn, wie wenig ihn die Fotos emotional berührten. Dieses lächelnde Paar, beide jünger als Dan heute, war ihm fremd. Das Baby, das sie auf dem Arm hielten, hätte irgendein beliebiges Kind sein können.
Mit der Zeit verloren die Fotos ihre Macht, ihm Schmerz zu bereiten. Dan fand keinen Bezug mehr zu diesen Bildern – oder vielmehr zu den Erinnerungen, die sie lebendig halten sollten. Wenn er versuchte, sich wichtige Momente ins Gedächtnis zu rufen, musste er feststellen, dass seine Fantasie die Lücken ausfüllte. Seine Vergangenheit wurde zur Fiktion. Er fragte sich, ob es ihm in zehn oder fünfzehn Jahren mit der Gegenwart ebenso gehen würde. Ob es ihm, wenn er dann auf die Ereignisse des vergangenen Dienstags zurückblickte, schwerfallen würde zu glauben, dass er damals in einen tödlichen Verkehrsunfall verwickelt gewesen war.
Er klappte das Album zu. Es gab natürlich noch andere zuverlässige Gedächtnisstützen. Noch Jahre nach dem Tod seiner Eltern hatte Dan darauf bestanden, dass Joan das gleiche Waschpulver und den gleichen Weichspüler benutzte. Der Duft eines frisch gewaschenen Hemds oder Bettbezugs konnte in ihm nach wie vor – wenngleich nur für einen Augenblick – die Illusion erwecken, dass er noch ein Kind sei, mit einer Mutter und einem Vater, die immer auf ihn aufpassen würden, ihn beschützen vor der Welt und vor den Ungeheuern, die in der Dunkelheit lauerten.
Aus dem gleichen Grund trank er manchmal die Lieblingslimonade seines Vaters, Dandelion & Burdock, obwohl er den Geschmack nie gemocht hatte. Er suchte auf entlegenen Fernsehkanälen nach Wiederholungen von Blind Date und der Sitcom Only Fools and Horses , weil er sich diese Sendungen immer zusammen mit Mum und Dad angeschaut hatte.
Er erinnerte sich an die beunruhigende Mischung aus Eifersucht und Stolz, die er nach der Geburt seines Bruders empfunden hatte. Er wusste noch genau, wie er Louis seinen Kameraden vorgeführt hatte und wie er einmal sogar vor ihren Augen seinem kleinen Bruder die Windeln gewechselt hatte, begleitet von Gekicher und spöttischen Bemerkungen, hinter denen sich widerwilliger Respekt verbarg. So meilenweit war eine solche Tätigkeit von den Erfahrungen der meisten zwölfjährigen Jungen entfernt, dass sie sich nicht entscheiden konnten, ob sie es nun cool finden sollten oder nicht.
Dann erinnerte er sich an einen Abend, als seine erschöpfte Mutter bei ihm die Symptome eines irrationalen, aber dennoch sehr realen Gefühls des Verlassenseins entdeckt hatte. Sie hatte Louis ein paar Sekunden lang schreien lassen, hatte Dan in den Arm genommen, ihr Gesicht an
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