Chaos Erde
man eine kompetente Regie erahnen – wahrscheinlich Gus’ Regie –, und während die Schauspielerin rundumwirbelte, sich auf allen Seiten von Piken umstellt sah, daraufhin den Kopf senkte und die Schultern sinken ließ, sich ins unausweichliche Los fügte, zeichneten ihre Gesten sich durch echtes Pathos aus. In Quaddels Augen brannten Tränen der Rührung.
Bedächtig kniete das Mädchen sich vor den Richtblock; aufgrund der Nacktheit wirkte es um so mitleiderregender und schutzloser. Roh trat der Henker nach den Füßen der Verurteilten, stieß sie zurecht, bis sie ihm >ordentlich< genug waren; sein Opfer zuckte zusammen, gab jedoch keinen Laut von sich.
Inzwischen war auch die Zuschauermenge in vollkommenes Schweigen versunken. Nur das Atmen war noch zu hören.
Sobald er endlich mit der Haltung der Todgeweihten zufrieden war, packte der Henker seine Axt fester, holte so weit aus, daß das Blatt hinter seinem Rücken in Höhe der Taille schwebte, und schwang sie.
Von diesem Moment an ging die Aufführung dermaßen schief, daß es nicht übertrieben war zu sagen, die Hölle brach los.
Mit der Axt fing es an. Auf dem Scheitelpunkt des weiten Bogens, durch den der Scharfrichter sie schwang, löste sich das Blatt vom Stiel und sauste hoch empor, so daß der Henker den Hackklotz mit weit weniger Wucht als erwartet traf, mit lediglich so geringer Kraft sogar, daß er das Gleichgewicht verlor. Infolgedessen verfehlte er Maria Stuarts Hals und geriet ins Torkeln, und der Aufprall seiner beiden Arme auf den Richtblock fiel so schmerzhaft aus, daß er mit einem Fluch den Stiel wegwarf und sich die geprellten Ellbogen rieb, während die verblüffte Schauspielerin sich umdrehte und verwirrt aufsetzte. Ein verborgener Mechanismus katapultierte ein blutbesudeltes Duplikat ihres Kopfs aufs Schafott, auf dem er über die Bohlen und über die Kante rollte, ohne daß jemand ihn beachtete – denn in der nächsten Sekunde wurde der Blick der Schauspielerin, so wie der Blick aller anderen Beteiligten, auch Quaddels (obwohl er lieber das Mädchen in Grau angehimmelt hätte), wie Nägel durch einen Magneten von dem verselbständigten Blatt der Axt angezogen.
Es schwebte; und es rotierte, aber das erregte einen weniger relevanten, dafür jedoch eindeutig erheblich wahrscheinlicheren Eindruck.
Wie unwahrscheinlich es auch sein mochte, das Blatt schwebte mitten in der Luft, schien dabei – so hatte man unwillkürlich das Gefühl – zu prüfen, aus welche Weise es ein Höchstmaß an Unheil anrichten könnte.
Zeit verstrich.
Eine Entscheidung kam zustande.
Das Blatt schwirrte seitwärts, kreiselte jetzt so rasant, daß man es pfeifen hören konnte, streifte Gus’ Drehkran, so daß der Regisseur mit seiner Sitzschaukel abzustürzen drohte. Aus Gus’ Megafon röhrte Gebrüll, wurde jedoch gleich darauf von Schreckensschreien übertönt, als das wie ein Querschläger abgeprallte stählerne Blatt gegen den Kamerakran knallte und die Stromkabel zertrennte, ein grelles Stieben und Prasseln elektrischer Funken verursachte.
Als hätte es dadurch frische Energie getankt, rotierte das Blatt von nun an noch schneller. Es trudelte in seitlicher Richtung und senkte sich gleichzeitig zur Tribüne hinab. Die Zuschauer kreischten und sprangen von ihren Plätzen auf. Bedrohlich schwankte die Tribüne. Aberdutzende von Menschen zogen den Kopf ein, während das Blatt im Zickzack so dicht über ihre Frisuren hinwegzischte, daß ihnen anschließend die Haare, falls sie dünn und relativ fettfrei waren, infolge elektrischer Aufladung zu Berge standen.
Und dann schlug das Schicksal noch härter zu.
Ob im Interesse der Authentizität oder aus Sparsamkeit, jedenfalls waren es Dübel und rauhe Seile, die die Tribüne zusammenhielten. Als hätte das Blatt die Fähigkeit zu beurteilen, wo der Bau am wirksamsten beschädigt werden konnte, raste die Schneide auf einen Endknoten zu. Es gab zwei solche Knoten. Das Blatt entschied sich für den linken. Kaum war das Seil zerhauen, folgte der gemächliche, aber unaufhaltsame Zusammenbruch der gesamten Tribüne. Menschen purzelten inmitten eines Wirrwarrs aus Balken und Brettern kunterbunt über- und durcheinander, kreischten und pinkelten sich an vor Furcht.
An letzterem gestattete der Gestank keinen Zweifel.
Von allen Augenzeugen empfand Quaddel dank seines gedämpften Gefühlshaushalts (von der Dämpfung blieb nur ein Gefühl ausgenommen, aber um darüber nachzudenken, hatte er momentan keine Zeit)
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