Chaosprinz Band 2
eine gewisse Mitschuld habe. Ungewollt natürlich, aber wen interessiert das schon?
Jan und Alex sprechen nicht mehr miteinander. Alex beäugt Jan, als sei er ein gefährlicher Feind, den man keine Sekunde lang aus den Augen lassen darf. Jan scheint aber nicht vorzuhaben, mich zu entführen. Er geht Alex und mir, so gut es eben geht, aus dem Weg.
»Ich habe dich gefragt. Du hättest mir doch einfach nur die Wahrheit zu sagen brauchen! Also stell dich jetzt nicht so an!«
Das war alles, was Jan zu Alex gesagt hat. Alex hat diese kühlen Worte mit einem abfälligen Schnauben kommentiert. Seitdem herrscht Funkstille.
»Sie halten dich für unehrlich und glauben, du bist nicht der Mensch, für den du dich all die Jahre lang ausgegeben hast«, erklärte Tom Alex heute Mittag die Enttäuschung unserer Mitschüler.
»Natürlich bin ich nicht mehr derselbe wie früher. Man entwickelt sich eben weiter, wenn man älter wird. Ich bin schließlich nicht mehr elf«, blaffte Alex genervt.
Wir versuchten natürlich sofort, ihn zu beruhigen und auf andere Gedanken zu bringen.
Der Sportunterricht war ein wahrer Spießrutenlauf. Beim Umziehen wurden wir beobachtet. Die Typen erwarteten wohl peinliche Schmachtszenen und albernes Mit-dem-Handtuch-auf-den-Hintern-Geklatsche . Ich bin mir sicher, wenn ich es wagen würde, Alex mit einem nassen Handtuch neckisch den Hintern zu versohlen, würde ich mir schneller eine Ohrfeige einhandeln, als ich Queer as Folk sagen könnte.
Herr Wolf war bedauerlicherweise auch nicht in der Lage das allgemeine Gerede zu ignorieren. Wir mussten wieder Basketball spielen und Alex und ich bildeten ein Team.
»Ziegler«, brüllte Herr Wolf und blies einmal laut und schrill in seine Trillerpfeife, damit auch jeder still war, innehielt und die Aufmerksamkeit uns zuwenden konnte. »Was soll das? Wirf den Ball gefälligst richtig. Nicht so seicht. Ullmann kann zwar nicht fangen, aber deshalb ist er noch lange kein Mädchen. Dachte, das wüsstest du mittlerweile…«
Hier und da wurde verhalten gekichert. Alex sah so aus, als wäre er kurz vor einem Wutanfall gewesen. Tom legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und ich warf ihm schnell einen flehenden Blick zu. Alex biss sich heftig auf die Unterlippe und schaute rasch zur Seite, um seinen Zorn zu verbergen. Wir spielten weiter. Und Alex warf mir den Ball immer noch sehr vorsichtig zu. Ich verliebte mich gleich noch einmal in ihn.
Ich bin sehr froh, dass dieser Schultag nun vorbei ist. Seufzend hebe ich den Kopf. Der Himmel ist grau. Dichte Wolken hängen tief über den Häuserdächern. Es wird bald regnen. Ich vergrabe meine Hände in den Jackentaschen. Nun sind schon vier Zehen tot. Unruhig trete ich von einem Fuß auf den anderen.
Obwohl Alex mir angeboten hat, mich zu begleiten, habe ich abgelehnt. Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüstert: Das musst du alleine machen!
Und eine andere, etwas lautere und ziemlich hysterische Stimme meint aufgebracht: Das musst du überhaupt nicht machen!
Das Haus ist alt. Die Fassade des Gebäudes ist genauso grau wie der düstere Winterhimmel. Die tiefschwarze Lackierung der alten Eichentür ist beinahe vollständig abgeblättert. An der Hauswand, neben der schweren Tür befinden sich acht Briefkästen. Und acht Klingelknöpfe. Mit Namensschildern.
Ich habe sie gelesen. Der Name ist dabei. Nummer fünf. Vierter Stock.
Ulrich Ziegler.
Ich laufe unruhig hin und her. Immer wieder betrachte ich die vielen Fenster. Als ich vor ein paar Tagen im Internet nach Lebenszeichen meines Großvaters googelte, war ich noch vollkommen von meiner Idee überzeugt. Pa und seine Familie sollten wiedervereint werden. Und ich wollte ihnen dabei helfen.
Leider konnte mir das Internet keine Auskünfte über den Verbleib oder das Leben eines Ulrich Zieglers geben. Nur seine Adresse habe ich gefunden. Es ist noch immer dieselbe wie vor über zwanzig Jahren.
Heute bin ich also nach dem Nachmittagsunterricht alleine hierher gefahren. Ich sollte einfach klingeln. Warum so feige? Was kann mir denn schon groß passieren?
Das Bild des stämmigen Mannes, mit dem dunklen Schnurrbart und dem finsteren Blick, erscheint vor meinem inneren Auge. Ich schlucke. In meinem Magen zuckt ein unangenehm flaues Gefühl.
Tu es jetzt oder lass es sein und geh nach Hause!
Einmal tief durchatmen und schon bin ich bei der Tür. Versuchsweise drücke ich dagegen. Sie lässt sich sofort öffnen. Problemlos. Ich zögere. Dann trete ich ein. Der
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