Charlie Chan macht weiter
deutet. Natürlich wäre es noch erfreulicher gewesen, wenn er diese Beweise selbst gesammelt hätte. Aber Scotland Yard war schon immer ein Team gewesen. Irgendwann würde er Welby einen Gefallen erweisen.
Am übernächsten Morgen fuhr Duff auf der »Maui« nach Honolulu. Er würde damit etwa zwanzig Stunden früher in Honolulu eintreffen als der Dollar-Liner von Yokohama. Ihm blieb also nur wenig Zeit, um seine alte Freundschaft mit Charlie Chan zu erneuern und ihm alles über seinen neuen Fall zu berichten. Er hatte beschlossen, Charlie seine Ankunft nicht zu telegrafieren. Ihn zu überraschen, war schöner.
Zwei Tage lang lebte Duff in Frieden mit der Welt. Eine wunderbare Ruhepause. Am Abend des zweiten Tages kam ein Junge mit einer Funkmeldung zu ihm.
Duff riß den Umschlag auf und sah als erstes auf den Absender. Die Botschaft kam von seinem Chef.
Welby ermordet im Dock von Yokohama gefunden, kurz nachdem Dollar-Liner mit Lofton-Gesellschaft in See gestochen. Bringen Sie Everhard – tot oder lebendig!
Duff zerknüllte wütend die Nachricht und saß lange da und starrte in die Dunkelheit jenseits der Reling. Er hatte Welby vor Augen, wie er ihn zum letztenmal in London gesehen hatte – heiter, lächelnd, vertrauensvoll. Der kleine Cockney, der sich bisher noch nie außerhalb der Reichweite des Klanges der Glocken von St. Mary le Bow verirrt hatte, auf den Docks von Yokohama getötet.
»Tot oder lebendig!« preßte Duff zwischen den Zähnen hervor. »Wenn es nach mir geht – tot.«
13
Einige Tage später kehrte Charlie Chan, Inspector bei der Polizei in Honolulu, nach einem erfolglosen Auftritt als Zeuge vor dem Polizeigericht in sein kleines Privatbüro zurück, das im Erdgeschoß, im hinteren Trakt der Polizeiwache, unter dem Gerichtssaal lag und sein ganzer Stolz und seine ganze Freude war. Es war ihm vor mehr als einem Jahr zur Verfügung gestellt worden, nachdem er den Fall Shelah Fane erfolgreich abgeschlossen hatte.
Charlie Chan schloß die Tür hinter sich, trat ans offene Fenster und blickte auf die Gasse hinaus, die hinter dem Gebäude entlanglief. Der Vorfall von eben machte ihm immer noch schwer zu schaffen. Er war sozusagen der Höhepunkt einer einjährigen Frustration.
Ein Portugiese, ein Koreaner und ein Filipino waren von Charlie auf der Straße beim Würfelspiel ertappt worden. Während er die drei in den Gerichtssaal im zweiten Stock von Halekaua Haie am Fuße der Bethel Street brachte, nachdem er sie auf der Flucht geschnappt hatte, sammelte sein japanischer Mitarbeiter Kashimo die Würfel ein. Doch leider hatte er sie sich bis zur Gerichtsverhandlung beim Friseur aus seinem Mantel stehlen lassen und damit Charlie Chan dem allgemeinen Gelächter preisgegeben.
Charlie Chan hatte in seinem Brief an Duff geschrieben, daß es eine Zeit zum Fischen und eine Zeit zum Trocknen der Netze geben würde, und die Orientalen wüßten das; aber er hatte auch bekannt, daß ihn das ewige Trocknen der Netze zu bedrücken begann. Seit ein paar Monaten war er von einer Unruhe erfüllt, die Chinesen normalerweise nicht kannten. Über ein Jahr war seit seinem letzten großen Fall vergangen, und nichts von Bedeutung hatte sich seitdem ereignet. Hinter Spielern in finsteren Gassen herzujagen, in duftende Küchen einzudringen, auf der Suche nach einem Destillierapparat, oder gar Strafzettel an die Windschutzscheibe von Autos zu stecken – war das vielleicht eine Karriere für Charlie Chan? Er liebte Honolulu, aber was tat Honolulu für ihn? Honolulu nahm ihn nicht ernst. Erst heute morgen hatte es ihn ausgelacht.
Mit einem voluminösen Seufzer setzte er sich an sein Rollpult.
Es war aufgeräumt, aufgeräumt wie der Schreibtisch eines alten Mannes, der sich von der Arbeit zurückgezogen hat. Er drehte sich langsam auf seinem Stuhl, der alarmierend quietschte. Mit jedem Tag wurde er älter. Na ja, seine Kinder würden weitermachen. Rose, zum Beispiel. Ein wunderbares Mädchen. Hat auf der Universität auf dem Festland große…
Es klopfte an Charlies Tür. Er runzelte die Stirn. Vielleicht war es Kashimo, der sich noch mal entschuldigen wollte? Oder der Chef, der wissen wollte, was oben vorgefallen war?
»Herein!« rief Chan.
Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle stand sein guter Freund, Inspector Duff von Scotland Yard.
14
Es gibt den Grundsatz, daß ein Chinese seine Überraschung nicht zeigt, und ein guter Kriminalbeamter lernt ohnehin frühzeitig, seine Emotionen zu
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