Chasm City
halbwegs ab. Sobald Lorant auf meine Bedingungen eingegangen war, konnte ich ihn überreden, einen Umweg zu der Stelle zu machen, wo die Trümmer der anderen Seilbahngondel heruntergekommen waren. Als wir dort eintrafen, hatte sich bereits eine große Menge versammelt. Nach einigem Zureden erklärte sich Lorant sogar bereit, auf mich zu warten, während ich mich zur Mitte durchdrängte. Waverly lag zwischen den Überresten der Gondel. Er war tot, ein Stück Mulch- Bambus hatte seine Brust durchbohrt. Meine Todesfallen für Reivich hatten nach dem gleichen Prinzip funktioniert. Waverlys Gesicht war eine blutige Masse, nur noch an dem blutgefüllten Krater zu erkennen, wo sein Monokel gesessen hatte. Es war wohl ein chirurgisches Implantat gewesen.
»Wer hat das getan?«
»Sammler«, zischte eine Frau, die gebückt neben mir stand, durch ihre Zahnlücken. »Ist hochwertige Optik. Sie kriegen guten Preis dafür.«
Ich beherrschte meine Neugier und fragte nicht, wer ›sie‹ waren.
Als ich zu Lorants Dreirad zurückkehrte, war mir zumute, als hätte man mir ein Stück meines Gewissens so brutal aus der Seele gerissen wie die Sammler Waverlys Monokel.
»Nun«, fragte Lorant, als ich wieder in das Dreirad stieg. »Was haben Sie ihm abgenommen?«
»Sie glauben doch nicht etwa, ich wollte mir eine Trophäe holen?«
Er zuckte die Achseln, als sei die Sache nicht weiter wichtig. Doch als wir losfuhren, fragte ich mich selbst, warum ich eigentlich hingegangen war, wenn schon nicht aus dem Grund, den er mir unterstellt hatte.
Die Fahrt zum Grand Central Terminal dauerte eine Stunde, wobei es mir die meiste Zeit so vorkam, als würden wir immer wieder den gleichen Weg zurückfahren, um Bereiche des Mulch zu umgehen, die entweder gefürchtet oder unpassierbar waren. Möglicherweise legten wir von da, wo Waverlys Leute mich angegriffen hatten, nur drei oder vier Kilometer zurück. Trotzdem war von hier aus keine der Landmarken zu sehen, die ich von Zebras Wohnung aus entdeckt hatte – oder nur aus einem Blickwinkel, aus dem ich sie nicht wiedererkannte. Das Gefühl, mich endlich zurechtzufinden – eine Vorstellung von der Topographie der Stadt zu entwickeln –, verblasste wie ein leerer Traum. Irgendwann würde die Orientierung schon kommen, wenn ich mich lange genug damit beschäftigte. Aber nicht heute, nicht morgen, und vielleicht auch in mehreren Wochen noch nicht. Und so lange wollte ich nicht bleiben.
Als wir endlich am Grand Central Terminal eintrafen, kam es mir so vor, als wäre ich eben noch hier gewesen und hätte verzweifelt versucht, mir Quirrenbach vom Hals zu schaffen. Jetzt war es viel früher am Tag – noch nicht einmal Mittag, so weit ich das nach dem Stand der Sonne über dem Moskitonetz schätzen konnte –, aber im Halbdunkel der Bahnhofshalle war davon nichts zu merken. Ich bedankte mich bei Lorant für die Fahrt und wollte ihn zusätzlich zu dem, was ich ihm bereits bezahlt hatte, zum Essen einladen, aber er lehnte ab und wollte sein Dreirad nicht verlassen. Mit Schutzbrille und Hut, den Kragen bis zu den Ohren hochgezogen, sah er völlig menschlich aus, aber diese Illusion hätte er im Innern der Halle wohl nur schwer aufrecht erhalten können. Die Schweine waren offenbar nicht überall gern gesehen und durften weite Teile des Mulch überhaupt nicht betreten.
Wir schüttelten uns die Hände – beziehungsweise die Hufe – und dann fuhr er in den Mulch zurück.
Vierundzwanzig
Meine erste Anlaufstelle war das Zelt des Hehlers, wo ich Zebras Waffe zu einem Preis verkaufte, der wahrscheinlich unverschämt weit unter ihrem wahren Wert lag. Aber ich konnte mich nicht beschweren: es ging mir nicht so sehr um das Geld, als darum, die Waffe los zu werden, bevor man sie zu mir zurück verfolgte.
Der Hehler fragte, ob sie heiß sei, aber ich sah ihm an, dass ihn das nicht wirklich interessierte. Das Gewehr war für eine Operation wie den Reivich-Mord viel zu unhandlich und auffällig. Der einzige Ort, wo man damit auftauchen konnte, ohne dass alle Welt die Augenbrauen hochzog, wäre ein Treffen von Waffennarren gewesen.
Wie ich erfreut feststellte, übte Madame Dominika ihr Gewerbe nach wie vor aus. Diesmal brauchte mich niemand in ihr Zelt zu schleppen, ich ging ganz freiwillig hinein. Die Energiezellen, die ich zu verkaufen vergessen hatte, zogen meine Manteltaschen nach unten.
»Sie heute nicht arbeiten« sagte Tom, der Junge, der Quirrenbach und mich zuerst hierher gezerrt hatte.
Ich zog ein
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