Chasm City
sich scannen lassen, Chanterelle?«
Jetzt sah sie mich an, als zweifelte sie tatsächlich an meinem Verstand. »Selbstverständlich.«
»Interaktive Scans – wie sagen Sie dazu?«
»Alpha-Simulationen.«
»Das heißt, irgendwo in dieser Stadt läuft in diesem Moment eine Simulation von Ihnen herum?«
»Im Orbit, Schwachkopf. Die Technologie, die solche Scans erleichterte, musste streng abgeschirmt werden, sonst hätte sie die Seuche nie überstanden.«
»Natürlich, wie dumm von mir.«
»Ich fliege sechs bis sieben Mal pro Jahr hinauf, um sie auffrischen zu lassen. Jeder Besuch in Refugium ist wie ein kleiner Urlaub. Refugium ist ein Habitat hoch über dem Rostgürtel, wo man vor Seuchensporen völlig sicher ist. Dort lasse ich mich scannen, und anschließend assimiliert die Simulation von mir, die bereits läuft, meine Erfahrungen aus den letzten zwei bis drei Monaten. Ich betrachte sie inzwischen nicht mehr als Kopie, sondern eher als ältere und klügere Schwester, die alles weiß, was mir jemals widerfahren ist – so als hätte sie mir mein Leben lang über die Schulter geblickt.«
»Es ist sicher sehr beruhigend«, sagte ich, »zu wissen, dass man nicht wirklich tot ist, selbst wenn man sterben sollte, sondern nur eine Existenzform durch eine andere eintauscht. Dabei stirbt doch ohnehin niemand von Ihnen wirklich, nicht wahr?«
»Vor der Seuche mag das noch gegolten haben. Jetzt nicht mehr.«
Ich erinnerte mich an das, was Zebra mir erzählt hatte. »Wie steht es dann mit Ihnen? Sie sind offensichtlich keine Hermetikerin. Gehören Sie zu den Unsterblichen, die mit den Genen für extreme Langlebigkeit geboren wurden?«
»Ich habe nicht die schlechtesten Gene geerbt, wenn Sie das meinen.«
»Aber auch nicht die besten«, sagte ich. »Das heißt, Sie waren noch darauf angewiesen, dass die kleinen Fehler der Natur von Maschinchen in Ihrem Blut und Ihren Zellen behoben wurden, sehe ich das richtig?«
»Dazu braucht man keine großen geistigen Sprünge zu machen.«
»Und diese Maschinen? Was ist nach der Seuche mit ihnen passiert?« Ich schaute nach unten. Wir schwebten gerade über eine Hochbahnlinie hinweg. Eine der vierseitig symmetrischen Dampflokomotiven zog eine Kette von Waggons durch die Nacht in irgendein entlegenes Stadtviertel. »Hatten Sie ihnen den Befehl zur Selbstzerstörung gegeben, bevor die Seuchensporen sie erreichen konnten? Das mussten doch die meisten Ihrer Schicksalsgenossen tun, wenn ich nicht irre.«
»Was geht Sie das an?«
»Ich frage mich nur, ob Sie auf Traumfeuer sind?«
Chanterelle antwortete nicht direkt. »Ich wurde 2339 geboren und bin einhundertachtundsiebzig Standardjahre alt. Ich habe Wunder erlebt, die Ihre Vorstellungskraft übersteigen, und Szenen des Grauens, bei denen Sie erstarren würden. Ich habe Gott gespielt, habe die Grenzen dieses Spiels ausgelotet und bin darüber hinaus gewachsen wie ein Kind über ein allzu simples Spielzeug. Ich habe tausend Mal mit angesehen, wie diese Stadt sich veränderte, wie sie mit jeder Veränderung schöner – strahlender – wurde und wie sie sich schließlich in ein schmutziges, schwarzes, giftiges Tier verwandelte. Und wenn sie, sei es in hundert, sei es in tausend Jahren, zurück kriecht ins Licht, werde ich immer noch da sein. Glauben sie, ich würde die Unsterblichkeit so ohne weiteres aufgeben oder mich in eine alberne Metallkiste sperren lassen wie ein verschrecktes Kind?«
Hinter der Katzenmaske flammten ihre Augen mit den senkrechten Pupillenschlitzen leidenschaftlich auf. »Mein Gott, nein. Seit ich von diesem Feuer getrunken habe, lässt sich mein Durst nicht mehr stillen. Können Sie begreifen, wie aufregend es ist, durch den Mulch zu gehen wie durch eine fremde Welt, ohne Schutz, obwohl ich weiß, dass ich die Maschinen noch in mir trage? Es ist ein primitives Vergnügen, ein Prickeln, als ginge man durch Feuer oder schwämme mit den Haien.«
»Und deshalb spielen Sie auch das Große Spiel! Weil es ebenfalls ein primitives Vergnügen ist?«
»Was glauben Sie?«
»Ich glaube, Sie haben sich mehr gelangweilt, als Ihnen heute bewusst ist. Deshalb spielen Sie, nicht wahr? So habe ich Waverly verstanden. Als die Seuche zuschlug, hatten Sie und Ihre Freunde alle legalen Erlebnismöglichkeiten ausgeschöpft, die Ihre Gesellschaft Ihnen zu bieten hatte, Sie hatten alle Erfahrungen gemacht, die sich inszenieren oder simulieren ließen, hatten kein Spiel, kein Abenteuer, keine intellektuelle Herausforderung
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