Chasm City
das Landefeld überquerten und auf den Torbogen zu gingen, der ins Innere des Escher-Turms führte. Einige Palankine glitten wie wandelnde Grabsteine vor uns her. Wenigstens regnete es nicht. Vielleicht regnete es in diesem Teil der Stadt weniger häufig, oder wir befanden uns hier schon oberhalb der schlimmsten Niederschläge. Meine Kleider waren noch nass vom Mulch, aber in dieser Beziehung sah Chanterelle nicht besser aus als ich.
Hinter dem Bogen lag ein hell erleuchteter, kühler Gang. Die Luft war parfümiert, Lampen, Fahnen und langsam rotierende Ventilatoren hingen von der Decke. Der Korridor machte eine leichte Biegung nach rechts, wir überquerten auf Steinbrücken mehrere Zierteiche. Zum zweiten Mal seit meiner Ankunft in der Stadt glotzten Koi-Karpfen zu mir herauf.
»Was finden Sie eigentlich an diesen Fischen«, fragte ich.
»Sie sollten nicht so verächtlich über sie sprechen. Sie bedeuten uns viel.«
»Aber es sind doch nur Karpfen.«
»Ja, und diesen Karpfen verdanken wir unsere Unsterblichkeit. Jedenfalls den ersten Schritt dorthin. Koi-Karpfen sind sehr langlebig. Sogar in freier Wildbahn sterben sie eigentlich nicht an Altersschwäche. Sie werden nur so lange immer größer, bis ihr Herz nicht mehr mitmacht. Aber das ist nicht das Gleiche.«
Chanterelle murmelte etwas wie ›Gesegnet seien die Koi‹, als sie die Brücke überquerte, und ich wiederholte lautlos den Spruch, um ja nicht unangenehm aufzufallen.
Die kristallinen Wände zeigten ein lebhaftes repetitives Muster, das aus Achtecken bestand, aber sie traten immer wieder zurück, um kleine Boutiquen und andere Geschäfte aufzunehmen, die in krakelig-bunter Neonschrift oder pulsierenden Lichtholografien ihre Dienste feilboten. Ich sah viele Baldachin-Bewohner auf Einkaufsbummel, meistens junge Paare, zumindest dem Aussehen nach. Kinder gab es freilich kaum, und wenn ich welche entdeckte, hätten es auch neuere Transformationen von Erwachsenen in ein geschlechtsreifes Jugendstadium oder sogar Haustiere in menschlicher Gestalt sein können, denen man einige kindgerechte Wendungen einprogrammiert hatte.
Chanterelle führte mich in einen großen Raum, ein prächtiges Kristallgewölbe, wo auf vielen Stockwerken mehrere Einkaufszentren und Märkte vereint waren. Von der Decke hingen Kronleuchter so groß wie Landekapseln. Ein kunstvoll verschlungenes Netz von Wegen führte in vielen Windungen vorbei an Koi-Teichen und künstlichen Wasserfällen, an Pagoden und Teehäusern. Im Zentrum dieses Innenhofes stand ein riesiges Glasbecken, das von einem feinen, rauchgrauen Metallgitter umschlossen war. Ich sah, dass in dem Becken etwas schwamm, aber davor drängten sich so viele Menschen mit Sonnenschirmen, Fächern und angeleinten Haustieren, dass ich nicht erkennen konnte, was es war.
»Ich setze mich jetzt an diesen Tisch«, sagte ich und wartete, bis ich Chanterelles Aufmerksamkeit gewonnen hatte. »Sie gehen dort in das Teehaus, bestellen für mich eine Tasse Tee und für sich, was immer Sie wollen, und kommen dann an den Tisch zurück. Und Sie werden den Anschein erwecken, als amüsierten Sie sich prächtig.«
»Sie gedenken die ganze Zeit die Pistole auf mich zu richten?«
»Betrachten Sie es als Kompliment. Ich kann den Blick nicht von Ihnen wenden.«
»Sie sind ein Witzbold, Tanner.«
Ich ließ mich lächelnd in den Stuhl sinken. Plötzlich schämte ich mich, weil ich über und über mit getrocknetem Mulch- Schlamm bedeckt war. Neben den bunt gekleideten Baldachin -Spaziergängern kam ich mir vor wie ein Stadtstreicher auf einem Empfang.
Ich war darauf gefasst, dass Chanterelle nicht wiederkäme, um mir den Tee zu bringen. Glaubte sie denn wirklich, ich würde sie hier in den Rücken schießen? Und hielt sie mich gar für einen solchen Meisterschützen, dass ich aus der Tasche heraus zielen konnte, ohne Gefahr zu laufen, einen Unbeteiligten zu treffen? Wäre sie einfach gemächlich davon geschlendert, dann wäre dies das Ende unserer Bekanntschaft gewesen. Und sie hätte – wie ihre Freunde – eine gute Geschichte zu erzählen gehabt, auch wenn die nächtliche Jagd nicht ganz nach Plan gelaufen war, Ich wäre ihr nicht einmal böse gewesen. So sehr ich mich auch bemühte, sie unsympathisch zu finden, ich vermochte kaum negative Gefühle aufzubringen. So gut ich Zebras Standpunkt verstand, auch was Chanterelle gesagt hatte, leuchtete mir ein. Sie hielt die Menschen, auf die man Jagd machte, für schlecht, und fand, sie hätten
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