Chasm City
seine Längsachse und erzeugte damit auf den gewölbten Decks die Illusion von Schwerkraft. Sky sah gebannt zu, wie die Lichter in Sicht kamen und zehn Sekunden später wieder verschwanden. Er entdeckte die winzige Öffnung im Frachtzylinder, wo das Taxi das Schiff verlassen hatte. Sie sah sehr klein aus, aber vielleicht nicht klein genug, wenn man bedachte, dass dieses Schiff für alle Zukunft seine ganze Welt darstellte. Noch war er ein kleiner Junge und hatte erst einen winzigen Teil der Santiago besucht, aber bald würde ihm niemand mehr verbieten, das Schiff bis in den letzten Winkel zu erforschen.
Noch etwas fiel ihm auf; etwas, das die Modelle und Holos einfach weggelassen hatten. Wenn sich das Schiff drehte, sah man, dass es auf einer Seite dunkler war auf der anderen.
Was mochte das bedeuten?
Doch er hatte kaum begonnen, sich über diese Unstimmigkeit den Kopf zu zerbrechen, als er sie auch schon wieder vergaß. Zu sehr beeindruckte ihn die schiere Größe des Schiffes, die vielen Details, die im luftleeren Raum noch aus mehreren Kilometern Entfernung gestochen scharf zu erkennen waren, und er überlegte, wo sich aus dieser ungewohnten Perspektive wohl seine Lieblingsplätze befinden mochten. Auf den tollkühnen Ausflügen, die er nicht allein, sondern nur unter Constanzas Führung unternommen hatte, waren sie nie sehr weit in die Säule vorgedrungen, bevor sie von den Erwachsenen wieder eingefangen wurden, so viel stand fest. Übrigens hatte ihm niemand seine Eskapaden wirklich verübelt. Man hatte Verständnis dafür, dass er die Toten sehen wollte, nachdem er von ihrer Existenz wusste.
Natürlich waren die Toten nicht wirklich tot – nur tiefgefroren.
Die Säule war einen Kilometer lang; halb so lang wie das ganze Schiff. Ihr Querschnitt war ein Sechseck, und an jeder der sechs Seiten hingen, wie durch eine Nabelschnur mit der Säule selbst verbunden, jeweils sechzehn scheibenförmige Schläfermodule. Sky wusste, dass jede dieser sechsundneunzig Scheiben in zehn Dreiecke unterteilt war, und dass jedes Dreieck einen Momio-Schläfer und die sperrigen Geräte zu seiner Versorgung beherbergte. Das ergab neunhundertundsechzig tiefgefrorene Passagiere. Fast tausend Menschen, für die gesamte Dauer der Reise zum Schwan in eisigem Tiefschlaf gefangen.
Selbstverständlich waren diese Schläfer die kostbarste Fracht, die das Schiff beförderte, ja, seine einzige Daseinsberechtigung. Die einhundertfünfzig Mann starke Wachbesatzung war nur dazu da, die Tiefgefrorenen zu betreuen und das Schiff auf Kurs zu halten. Wieder verglich Sky sein derzeitiges Wissen über das Schiff mit dem Informationsstand, den er bis zu seiner Mündigkeit zu erreichen hoffte. Im Moment kannte er nicht einmal ein Dutzend Menschen, aber das lag nur daran, dass er besonders behütet aufgewachsen war. Bald schon würde er viele von den anderen kennen lernen. Sein Vater sagte, das Schiff sei nur deshalb mit einhundertfünfzig wachen Passagieren besetzt, weil diese Zahl für Soziologen eine magische Größe darstelle; es war der Wert, auf den sich viele Dorfgemeinschaften einpendelten, weil er die besten Aussichten auf hohes Gemeinwohl und innere Harmonie bot. Die Gruppe war so groß, dass der Einzelne nach Wunsch in leicht unterschiedlichen Kreisen verkehren konnte, aber nicht so groß, dass sich Zellen bilden konnten, die zur Spaltung führten. So betrachtet wäre der Alte Balcazar der Stammesführer, und Titus Haussmann mit seiner umfassenden Kenntnis aller geheimen Überlieferungen und seiner ständigen Sorge um die Sicherheit der Bevölkerung spielte vielleicht die Rolle des Medizinmanns oder des ranghöchsten Jägers.
In beiden Fällen wäre Sky der Sohn eines Autoritätsträgers oder, wie die Erwachsenen manchmal sagten, eines Caudillo – das Wort bedeutete ›großer Mann‹ –, und hätte somit gute Zukunftschancen. Seine Eltern und die anderen Erwachsenen sagten ganz offen, dass Captain Balcazar inzwischen ein ›alter Mann‹ war. Der Alte Balcazar und sein Vater standen beruflich in engem Kontakt: Titus hatte stets das Ohr des Captains, und Balcazar fragte Skys Vater in allen Fragen um Rat. Auch für diesen Ausflug hatte Titus sicher Balcazars Genehmigung eingeholt, denn die Raumschiffe der Santiago waren unersetzlich und sollten daher so wenig wie möglich geflogen werden.
Sky spürte, wie sich die künstliche Schwerkraft wieder verringerte. Das Taxi bremste ab.
»Sieh es dir genau an«, sagte Titus.
Sie schwebten
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