Cherubim
aber er kam nicht dazu, danach zu fragen, denn der Doktor redete schon weiter: »Der Mann scheint von der Küste gewesen zu sein, wenn ich mir die Verzierungen an der Vorderseite so ansehe.«
Es war bei ihrem Eintreffen zu dunkel gewesen, um diese Verzierungen zu betrachten, aber Lukas nahm sich vor, dies am nächsten Tag nachzuholen.
Nachdem der Doktor die Regale gesäubert hatte, nahm er einen Stapel Bücher aus seiner Kiste. Mit einer fast feierlich anmutenden Geste stellte er sie auf eines der blankgeputzten Bretter.
Neugierig kam Lukas näher. »Darf ich sie mir ansehen?«, fragte er.
»Nur zu!« Der Doktor deutete auf die Bücher. Fünf Stück waren es, eines nur trug den Titel auf dem Rücken: Opera Omnia. Gesammelte Werke. Und jemand hatte mit einer anderen Tinte und Schrift darüber geschrieben: Medicina.
»Gesammelte Werke der Heilkunst?«, fragte Lukas. »Das klingt großartig.«
»Es enthält Schriften über alle möglichen Krankheiten«, erklärte der Doktor. »Wenn du magst, kannst du es später lesen.«
»Gern.« Lukas betrachtete die leeren Rücken. Eines der vier ungekennzeichneten Bücher war ein ganzes Stück größer als die anderen und mit festen, lederbezogenen Holzdeckeln versehen. Lukas zog es hervor und schlug es auf. Enttäuscht stellte er fest, dass es sich um einen Text in Arabisch handelte.
Der Doktor lachte auf. »Das! Ich habe es noch nicht sehr lange. Ich habe es, hm ... beschafft, weil ich dachte, es enthält eine Schrift über die Alchemie, die mir weiterhelfen könnte. Aber leider ist es nur eine langatmige, wenn auch eigentlich recht aufschlussreiche Abhandlung über den Blutkreislauf.«
Lukas warf einen Blick auf die obersten in dieser seltsam verschnörkelten arabischen Schrift geschriebenen Zeilen. Jemand hatte sie übersetzt und in lateinischer Schrift auf dem Rand niedergeschrieben. »Ibn an-Nafis?«, entzifferte er den Namen des Verfassers. »Noch nie gehört!«
»Wie gesagt, es ist für unsere Zwecke auch eher unnütz. Jetzt lass uns lieber weiterarbeiten. Für das Studium der Bücher ist später noch genug Zeit.«
Lukas stellte das schwere Buch wieder an seinen Platz. Ein ehrfürchtiger Schauer erfasste ihn angesichts des geballten Wissens, das hier vor seiner Nase zwischen Buchdeckel gebannt stand.
»Ich danke Euch!«, sagte er leise.
»Wofür?« Der Doktor griff nach dem Besen und machte sich daran, den Boden zu fegen.
»Dafür, dass Ihr mich hergeholt habt. Vor kurzem wusste ich noch nicht, wie es weitergehen sollte. Jetzt habe ich eine Zukunft. Und eine spannende Aufgabe dazu.«
Kurz hielt der Doktor inne, fegte dann jedoch weiter. Seine Stimme hatte sich ein klein wenig verändert, als er fragte: »Warum wusstest du nicht, wie es weitergehen soll?«
Lukas räusperte sich. »Mein Vater ...« Es schmerzte, allein das Wort auszusprechen.
Endlich drehte der Doktor sich um. In seinem Blick lag ein seltsamer Ausdruck, dessen Ursprung sich Lukas nicht erklären konnte. Er schluckte schwer.
»Mein Vater ist tot«, murmelte er.
Langsam, als brauche er eine Weile, um die Worte zu begreifen, nickte der Doktor. »Wie ist er gestorben?«
»An seinem Herzleiden, das er schon viele Jahre hatte. Als Ihr mich hierher nach Nürnberg schicktet, um Eurer Frau die Nachricht Eures Todes zu überbringen ...« Wieder musste Lukas sich räuspern. Das Wort ›Tod‹ fühlte sich sperrig an in seiner Kehle. »Jedenfalls, ich kam anschließend zurück nach Köln und musste feststellen, dass unser Haus verwaist war. Nachbarn erzählten mir, dass das Herz meines Vaters in einer Nacht einfach aufgehört hatte zu schlagen. Sie zeigten mir das Grab, in dem er beigesetzt worden war.« Dieses Erlebnis lag nun schon Monate zurück, doch es schmerzte Lukas immer noch, daran zu denken, wie er vor dem schlichten Holzkreuz gestanden und darauf den Namen seines eigenen Vaters gelesen hatte.
Er schwieg eine Weile und hing seinen trüben Gedanken nach. Dann riss er sich zusammen. »Ich fragte die Nachbarn nach Euch, denn ich hatte ja keine Ahnung, was mit Euch geschehen war. Ich dachte, Ihr seid vor meinem Vater gestorben, und er habe dafür gesorgt, dass Ihr irgendwo beigesetzt werdet. Aber niemand wusste etwas. Eine Weile lang suchte ich alle einigermaßen frischen Gräber auf den umliegenden Friedhöfen ab. Aber auf keinem fand ich Euren Namen.« Lukas seufzte. »Jetzt, da Ihr vor mir steht, weiß ich auch, warum.«
Der Doktor lächelte matt.
»Warum seid Ihr davongegangen?«, fragte
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