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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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ein leises Klirren. Katharina hörte Lukas den Atem anhalten.
    Alle starrten sie auf die Phiole, doch sie war heil geblieben.
    Erleichtert stieß Lukas die Luft wieder aus.
    »Ich fühlte mich deiner so unwürdig, Katharina!«, murmelte Egbert. Rasch wischte er sich über die Augen. »Stets habe ich behauptet, ein Medicus zu sein. Ich hielt mich sogar für einen guten Medicus, doch es schien mir, als strafe Gott mich für meine Überheblichkeit. Ausgerechnet meiner eigenen Frau vermochte ich nicht zu helfen, obwohl ich sah, wie sehr sie litt!«
    Katharina hörte diese Worte, und sie wollte sie glauben. Sie wollte sie um alles in der Welt glauben, doch es gelang ihr nicht. Ganz hinten in ihrem Kopf ertönte eine leise, aber eindringliche Stimme, die sagte: Denk daran, wie er dich behandelt hat! Denk an seine Worte! Denk an die zahllosen Aderlässe!
    Unwillkürlich zog Katharina ihre Ärmel tiefer über die Handgelenkenach unten. Sie hatte länger nicht an die Schnittnarben dort nachgedacht, doch jetzt kehrte die Erinnerung daran, wie sie sie erhalten hatte, mit Wucht zurück.
    Egbert hatte sie zur Ader gelassen, wieder und wieder, weil er, wie alle studierten Medici, der Meinung gewesen war, ihre melancholia müsse von einem Übermaß an schwarzer Galle in ihrem Blut herrühren. Mit all seinen Mitteln hatte er versucht, sie zu heilen. Und als ihm das nicht gelungen war, war sein Verhalten Katharina gegenüber von Tag zu Tag stärker abgekühlt. Katharina erinnerte sich noch gut daran, wie er sie immer häufiger angezischt hatte: »Stell dich nicht so an, Herrgott!«
    Jetzt stand sie ihm gegenüber, sah die Tränen in seinen Augen und hörte seine Behauptung, wie sehr er selbst gelitten hatte – angeblich unter seiner eigenen Unzulänglichkeit und nicht unter ihrer Krankheit. Sie biss die Zähne zusammen, weil plötzlich ein Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte.
    Ein Gesicht, umrahmt von langen, hellbraunen Haaren.
    Und plötzlich begriff sie es wirklich: Egbert war am Leben! Sie war nach wie vor mit ihm verheiratet. Und es war ihre Pflicht als Ehefrau, das Beste aus dieser Situation zu machen. Es war ihre Pflicht, in seine Arme zurückzukehren und das Gelübde einzuhalten, das sie einst vor dem Altar gegeben hatte.
    Bis der Tod Euch scheidet ...
    Die Worte wollten sich nicht durch ihre enge Kehle zwängen, aber sie würgte sie hervor: »Lass mich dir helfen, das Rezept wiederzufinden!«
    In Egberts Augen erschien ein Leuchten. »Würdest du das tun?«
    Sie hätte am liebsten den Kopf geschüttelt, wäre beinahe auf dem Absatz umgekehrt und aus dem Haus gerannt. Aus diesem unheimlichen, verwahrlosten Haus, das einem Mann gehörte, der ihr fremd geworden war.
    Doch sie nickte. »Natürlich«, sagte sie.
    Und in ihrem Innersten schrie ihr Herz auf. Es schrie nur ein einziges Wort.
    Richard!Später am Abend saß Katharina zusammen mit Egbert und Lukas am Küchentisch. »Warum glaubst du, dass dieses Zeug gegen die Schwarzgalle helfen kann?«, fragte sie.
    In den letzten zwei Stunden hatte Egbert ihr gezeigt, was er von dem Herstellungsverfahren des apricum noch wusste. Er hatte Urin aus dem Holzeimer in der Ecke genommen und ihn eingekocht, bis er sich in eine zähflüssige, dunkelrote Masse verwandelt hatte. Er hatte diese Masse in die zuvor gereinigte Phiole getan und mit den beiden Pulvern vermischt. Und dann hatte er einen Stopfen in die Tülle der Phiole gesteckt und ihren Inhalt so lange über dem Herdfeuer geglüht, bis er sich in eine schwarze, pechartige Substanz verwandelt hatte.
    Und schließlich hatte er resigniert die Phiole auf den Tisch gestellt und gemeint: »Bis hierhin und keinen Schritt weiter.«
    Jetzt antwortete er auf Katharinas Frage: »Es gibt einen Gelehrten, der vor zweihundert Jahren einen Zusammenhang hergestellt hat zwischen schwarzem Harn und der melancholia ...«
    »Johannes Aktuarius«, warf Katharina ein.
    Egbert schaute überrascht in ihre Richtung, dann nickte er. »Genau. Dunkelheit wird durch Licht erhellt. Wenn ich in einem finsteren Raum eine Kerze anzünde, wird die Dunkelheit vertrieben.« Er tippte gegen die Phiole. Sie gab einen leisen, klingenden Ton von sich. »Ich glaube, wenn wir einem verdunkelten Geist Licht zufügen, dessen Dunkelheit weichen muss.« Er machte eine kurze Pause. »Schwarze Galle ist kalt und trocken«, fuhr er dann fort. »Das Leuchten, so wie ich es bei Meister Gilbert gesehen habe, ist luftähnlich, und du kennst die Eigenschaften, die der Luft

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