Cherubim
diesmal endgültig verloren zu haben.« Er drehte die Phiole so, dass Katharina die dünne Tülle sehen konnte, die oben aus ihr herausragte. Sie war ein ganzes Stück kürzer als noch vorhin.
»Sie ist mir abgebrochen«, erklärte Egbert, »als ich den Stopfen reinstecken wollte. Und als ich sie in die Flamme hielt, um die Ränder geradezuschmelzen, da habe ich sie aus Versehen versiegelt. Sieh her!«
Tatsächlich war die feine Öffnung der Tülle mit einem glasartigen Tropfen verschlossen.
»Das war des Rätsels Lösung!«, meinte Egbert. »Der Luftabschluss muss mit dem Stopfen nicht vollständig genug gewesen sein. Erst durch das Verschmelzen der Öffnung gelang das Werk.«
In dem gläsernen Gefäß verblasste das Leuchten langsam, und zurück blieb die graue Substanz. Katharina musterte sie skeptisch. Sie sah wie alles andere aus, aber nicht wie irgendeine Medizin, die sie kannte. »Muss ich das schlucken?«, fragte sie zögerlich.
Egbert warf einen Blick auf die Phiole. »Wir werden sehen«, sagte er knapp. Dann stellte er die Phiole auf den Tisch, nahm sich ein Tuch, das über den Rand seiner Kiste hing, und wischte sich die Hände daran an. »Wir werden sehen«, wiederholte er.
Dann marschierte er zur Tür.
Verständnislos blickte Katharina ihm hinterher. »Was hast du vor?«
Er blieb stehen. Wieder seufzte er ungeduldig. »Ich gehe schlafen, was sonst? Die Arbeit ist getan.«
Und damit verschwand er.
Fassungslos sah Katharina ihm nach.
Der Luginsland hatte den Bürgern ursprünglich dazu gedient, die benachbarten Burggrafen, mit denen Nürnberg oft jahrelang in Streit gelegen hatte, zu überwachen. Nachdem die Stadt jedoch 1427 die Burg gekauft hatte, war seine ursprüngliche Funktion überflüssig, und so wurde in dem Turm ein Narrenhäuslein eingerichtet – ein kleines Gefängnis mit Zellen, in denen geistig verwirrte Menschen eingekerkert wurden. Ein einzelner Mann tat Dienst als Gefängniswärter. Man nannte ihn allgemein nur den Eisenmeister.
All das ging Richard durch den Kopf, als er am nächsten Morgen zur zweiten Tagesstunde am Fuße der hoch aufragenden Burgmauer stand und mit in den Nacken gelegtem Kopf an dem Turm in dieHöhe schaute. Er war ein wenig erschöpft von dem steilen Anstieg, den er zwischen der Stadt und der alten Burg zurückgelegt hatte, und erst jetzt, da er vor dem Eingang des Turmes stand, beruhigte sich sein Atem wieder.
Arnulf, der neben ihm stand, schien hingegen der Aufstieg nicht besonders viel ausgemacht zu haben. »Ich kann es immer noch nicht glauben!«, murmelte er.
Richard fühlte mit ihm. Nachdem der Nachtrabe ihm am vergangenen Abend die beiden toten Tauben gezeigt hatte, war er wieder gegangen, um herauszufinden, wo Maria sich befand. Erst an diesem Morgen, vor kaum einer halben Stunde war er wieder bei Richard aufgetaucht und hatte ihm mitgeteilt, dass man Maria in das Narrenhäuslein im Luginsland gesteckt hatte. Offenbar hatte sie in einem Anfall von Wahnsinn den Altar der Katharinenkirche geschändet. Genaues hatte Arnulf nicht herausfinden können, aber es war von toten Tauben die Rede gewesen und von einer in dem Gotteshaus entblößten Scham.
»Nachdem ich von der Sache erfahren habe«, sagte Arnulf jetzt, »war ich noch mal in Marias Wohnung. Die anderen beiden Tauben fehlen. Mein Gott!« Er rieb sich über die Wangen, die er sich heute offenbar noch nicht rasiert hatte. Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen.
Richard legte ihm eine Hand auf den Arm. »Komm«, meinte er sanft.
Er war zusammen mit dem Nachtraben hergekommen, weil sie hofften, dass sein Aussehen und seine Autorität eines Patriziers ihnen den Weg in das Narrenhäuslein öffnen würde.
Er führte Arnulf zu dem Eingang des Turmes. Dort musste er sich erst ein Herz fassen, bevor er die Faust heben und pochen konnte.
»Was wollt Ihr?« Hoch über ihnen blickte ein dürrer Mann aus einer schießschartenähnlichen Öffnung im Mauerwerk auf sie nieder. Sogar auf die Entfernung konnte Richard die Haare sehen, die ihm in dichten Büscheln aus Nase und Ohren sprossen.
»Seid Ihr der Eisenmeister?« Richard war einige Schritte zurückgetreten, um den Mann besser sehen zu können.
»Ja.«
»Wir wollen zu einer Eurer Gefangenen. Der Jüdin, die gestern abend zu Euch gebracht worden ist.«
»Mit welcher Befugnis?«, gab der Wärter zurück.
Richard hatte geahnt, dass diese Frage kommen würde und sich eine Antwort zurechtgelegt. »Ich komme im Auftrag von Bürgermeister
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