Chicagoland Vampires: Ein Biss zu viel (German Edition)
lebte.
Aber heute Nacht, nach Blitzen und Feenköniginnen und Küssen und Waffengewalt, brauchte ich eine andere Art des Vergessens. Ich schob die Tür weiter auf und ging hinein.
Einen Moment lang stand ich mit geschlossenen Augen im Türrahmen und atmete den vertrauten Duft ein. Sein frisches, sauber riechendes Parfüm wurde langsam von Möbelpolitur und Staub überlagert, aber es war dennoch da. Es fühlte sich an wie der Hauch einer klaren Erinnerung, wie die Einflüsterungen eines Geistes.
Ich öffnete die Augen, schloss die Tür hinter mir und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Die Einrichtung war geschmackvoll, mit teuren europäischen Möbeln und Stoffen, und erinnerte mehr an ein Luxushotel als an die Räumlichkeiten eines Meistervampirs.
Ich durchquerte das Wohnzimmer und trat vor die zweite Doppelflügeltür. Diese führte in Ethans Schlafzimmer, und da die Sonne nun über den Horizont gestiegen war, betrat ich es. Mir stieg sofort wieder sein schwacher Duft in die Nase, und bevor ich darüber nachdenken konnte, zog ich Schuhe und Jacke aus und kroch in sein Bett, während mir Tränen die Wangen herabliefen. Das vertraute Gefühl seiner Bettwäsche und der vertraute Duft, der noch immer an ihr haftete, waren zu viel.
Ich dachte daran, wie wir uns geliebt hatten, an die Zärtlichkeit und die Freude, an sein eigenartiges, neckendes Lächeln, das er mir immer dann schenkte, wenn etwas, was ich getan hatte, ihm Freude bereitete, oder er mir hatte Freude schenken können. Seine grünen Augen waren so funkelnd gewesen, sein Mund so perfekt und sein Körper so schön wie der einer klassischen griechischen Statue.
Umgeben von seinem Duft lächelte ich und ließ mich in meinen Erinnerungen treiben. In seinem Bett, in seinem abgedunkelten Zimmer schlief ich ein.
Wir waren in einem Casino, umgeben von elektronischen Geräuschen und den blinkenden Lichtern der Spielautomaten, und wurden von zahlreichen Kellnerinnen angerempelt, die auf ihren Tabletts lächelnd Drinks in kleinen Gläsern servierten. Ich saß vor einem einarmigen Banditen, dessen Räder sich wie zufällig drehten und irgendwann langsamer wurden, um einzelne Symbole anzuzeigen. Einen Pflock. Einen Regentropfen. Einen Flammenring.
Ethan stand neben mir und hatte eine Goldmünze zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie drehte sich um ihre Achse und sah aus wie unter Stroboskoplicht betrachtet.
»Die Münze hat zwei Seiten«, sagte er. »Kopf oder Zahl. Richtig oder Falsch. Gut oder Böse.« Er richtete seinen Blick auf mich. »Wir haben doch alle die Wahl, oder nicht?«
»Was für eine Wahl?«
»Zwischen Mut und Feigheit«, schlug er vor. »Ehrgeiz oder Zufriedenheit.«
»Das mag sein.«
»Welche Wahl wirst du treffen, Merit?«
Ich wusste, dass er von etwas Wichtigem, etwas Bedeutsamem sprach, aber ich wusste nicht, was er meinte. »Welche Wahl habe ich zu treffen?«
Er schnippte die Münze mit dem Daumen in die Luft. Die Decke schien sich zu heben, während die Münze nach oben flog, sodass sie sich endlos hätte nach oben bewegen können, ohne die Decke zu berühren, wenn die Schwerkraft nicht ihre eigenen magischen Kräfte einsetzte. Sie drehte sich weiter und weiter, Kopf und Zahl und Kopf, und blitzte bei jeder Drehung hell auf.
»Verschwinden«, sagte Ethan.
Ich sah zu, wie die Münze in der Ferne immer kleiner wurde und der Unendlichkeit entgegenstrebte. »Sie verschwindet nicht«, sagte ich zu ihm. »Sie ist noch da. Sie dreht sich noch immer.«
»Nicht die Münze. Ich.«
Die Angst in seiner Stimme ließ mich ihn wieder ansehen. Er starrte auf die Innenflächen seiner Hände. Nachdem er die Münze in die Luft geworfen hatte, hatte Ethan begonnen sich aufzulösen. Seine Fingerspitzen zerbröselten zu Staub, der auf den grell gemusterten Teppich zu unseren Füßen fiel.
»Was geschieht mit dir?« Ich konnte nichts anderes tun, als auf seine Finger zu starren, die sich Millimeter um Millimeter auflösten. Doch anstatt entsetzt aufzuschreien oder zu versuchen, den Prozess aufzuhalten, sah ich einfach nur mit emotionsloser Faszination zu, wie mein Geliebter vor meinen Augen zerfiel.
»Ich habe meine Wahl getroffen. Ich habe mich für dich entschieden.«
Verzweifelt schüttelte ich den Kopf, denn ein Gefühl der Angst beschlich mich. »Wie halte ich es auf?«
»Ich glaube nicht, dass du das kannst. Es ist doch ganz natürlich, nicht wahr? Dass wir alle zu Asche zerfallen. Zu Staub. Und dann kehren wir zur Erde zurück.«
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