Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
die Angestellten rennen jetzt alle weg, verlassen das Land und lassen uns zurück. Was passiert dann mit den Knackis, haben wir uns gefragt. Die werden uns ja sicher nicht freilassen, dachten wir.
Es herrschte wirklich Unruhe in Plötzensse, weil wir gar nichts wussten. Ich sollte einige Tage nach der Katastrophe draußen kehren. Aber es fing an zu regnen, und da habe ich gestreikt: „Nee, Arbeit im radioaktiven Regen muss echt nicht sein. So eine Strafe habe ich wegen ein bisschen Dealerei nicht verdient“, habe ich zur JVA-Leitung gesagt. Das war in der Situation dann auch in Ordnung.
Von meinem Verdienst habe ich damals literweise Dosenmilch gekauft. Mein ganzes Geld habe ich dafür ausgegeben, weil es hieß, dass vor allem Gemüse und Milch radioaktiv belastet seien. Ich glaubte, dass Dosenmilch durch die Reduktion oder das Einkochen bei der Herstellung nicht betroffen sei, erst einige Jahre später las ich, dass dies ein Irrglaube war. Naja, damals kam ich mir clever vor, ich hatte 20 Dosen in meiner Zelle. Also gab es erst einmal eine zweiwöchige Dosenmilchdiät.
Dann ging die Welt doch nicht unter. Wobei man sich ja jahrelang nicht so sicher war, wie schwerwiegend die Folgen dieser Katastrophe sein würden. Man durfte ja nichts mehr essen, keine Pilze mehr sammeln. Auch das Knastessen wurde den Warnungen angepasst. Das fanden wir gar nicht selbstverständlich und waren einigermaßen erstaunt. In solchen Krisenzeiten ist man als Gesellschaft doch froh, die Bösen durch verseuchtes Essen loszuwerden, dachten wir. Das war im Frühling 1986.
Zu trinken gab es nur Kaffee und Tee. Alles andere konnte man nicht bezahlen, es gab zwar Coca-Cola und Apfelschorle und all das, aber das war zu teuer. Wasser aus der Leitung gab es umsonst, Löskaffee und Tee waren also die günstigsten Varianten. Eine Cola kostete drei Mark. Wenn du im Gefängnis keinen Job hattest, konntest du dir das eigentlich gar nicht leisten.
Ich war selten so gesund, körperlich und geistig, wie in diesen Monaten im Knast. Der Entzug von Heroin und Gras fiel mir leicht, denn da drin ist alles anders.
Du hast die Sorgen nicht, die du draußen hast. Da drin schreit dich kein Lehrer an, nur weil du morgens um acht noch nicht ganz wach bist und den Kopf in die Hände stützt. Da drin reduziert dich keiner auf die Fehler, die du im Leben gemacht hast, denn deretwegen sitzen da alle ein. Da drin musst du nicht allein frühstücken, weil deine Eltern keine Zeit haben, du musst dich nicht den Nachbarn erklären, nicht der Presse und nicht der Polizei. Es gibt da drin keine Steuer, um die du dich kümmern musst, keine versoffenen, falschen Freunde, keine Kritik, keine Beobachtung und keine Bewertung durch andere. Ich habe mich im Gefängnis oft freier gefühlt, als ich es in Freiheit je war.
Hätte ich meinen Hund Poncho mitnehmen können, wäre ich gern auch länger geblieben. Für andere mag der Knast traumatisch sein, für mich war es dort traumhaft!
Ich gebe zu, die Tollkühn hat ein paar Mal versucht, es mir echt zu vermiesen. Sie fand immer irgendwas, was sie störte, völlig unberechenbar. Einmal habe ich ihrer Meinung nach beim Schrubben der Küche zu laut Radio gehört – da machte sie kurzen Prozess und warf mein Gerät in den Wassereimer.
Aber damit nicht genug, sie ging mir auch an die Gurgel und warnte mich, sie nie wieder mit meinem Gedudel zu nerven. Im Radio lief Genesis’ „Land Of Confusion“, das war da gerade erst rausgekommen. Erst viel später habe ich mal auf den Text gehört und bemerkt, dass Phil Collins davon singt, dass es zu viele Menschen auf der Welt gibt, die Probleme machen und zu wenig Liebe. Keine Ahnung, ob es der Text war, der sie störte, oder ob ihr das Lied nicht Rock genug war.
Es fiel mir sogar leicht, im Knast zu arbeiten, leichter als es mir draußen fällt. Einfach, weil ich nicht den Druck verspürte, irgendjemandem irgendetwas beweisen zu müssen, Anforderungen erfüllen, Normen entsprechen und mich Bewertungen unterziehen zu müssen. So etwas blockiert mich, weil ich nicht selbstbewusst genug bin.
Im Gefängnis zwingt dich niemand zur Arbeit, sie kommen nicht einmal von allein auf dich zu und bieten dir das an. Du musst schon selbst nachfragen, deine Vita aufsetzen, ein kurzes Vorstellungsgespräch führen. Aber das kannte ich ja schon von meiner Buchhändlerlehre, das ging ganz leicht. Ich habe mich beworben, weil ich rauswollte aus meiner Zelle, weil es mir sonst zu langweilig geworden
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