Christmasland (German Edition)
der Aussicht so berauscht, dass er gar nicht wusste, was er darauf antworten sollte. »Ich möchte die Kandiszuckerhöhle besuchen und mir den Schneemenschen ansehen. Oder, nein! Ich möchte mit dem Schlitten des Weihnachtsmanns fahren und ihn vor den Wolkenpiraten retten!«
»Abgemacht!«, sagte Manx. »Erst Karussell fahren, dann Spiele spielen!«
»Was für Spiele?«
»Die Kinder lieben das Scherenspiel. Ein Heidenspaß! Genau wie Blinde Kuh. Das musst du erlebt haben. Schau mal, dort drüben! Ein Schneelöwe beißt einem Schneeschaf den Kopf ab!«
Wayne drehte sich herum, um aus dem rechten Fenster zu sehen, aber seine Großmutter versperrte ihm die Sicht.
Sie sah genauso aus wie beim letzten Mal. Ihr Körper leuchtete hell wie Schnee im Mondschein. Ihre Augen waren hinter blitzenden Halbdollarmünzen verborgen. Zu Lebzeiten hatte sie Wayne immer Halbdollarmünzen zum Geburtstag geschickt. Aber sie hatte ihn nie besucht, weil sie Angst vorm Fliegen hatte, hatte sie gesagt.
».Himmel falscher ein ist Das«, sagte Linda McQueen. ».dasselbe nicht sind Spaß und Liebe .rückwärts nicht denkst Du .nicht dich wehrst Du«
»Was meinst du damit: Der Himmel ist falsch?«, fragte Wayne.
Sie deutete aus dem Fenster, und Wayne reckte den Hals. Eben war der Himmel noch voller Schneeflocken gewesen. Jetzt war dort nur noch ein Rauschen – Milliarden kleine schwarze, graue oder weiße Flecken wirbelten durcheinander. Bei dem Anblick begannen die Nervenenden hinter Waynes Augäpfeln zu pulsieren. Besonders hell war der Himmel dort oben nicht – eigentlich sogar ausgesprochen dunkel –, aber er tat trotzdem in den Augen weh. Wayne zuckte zurück und schloss die Lider.
»Du hättest mich in Colorado besuchen sollen«, sagte Wayne zu seiner Großmutter. »Dann hätten wir rückwärts sprechen können, so viel du willst. Aber als du noch am Leben warst, haben wir uns ja nicht einmal normal unterhalten. Ich weiß nicht, warum du jetzt unbedingt mit mir reden willst.«
»Mit wem unterhältst du dich da, Wayne?«, fragte Manx.
»Mit niemand«, sagte Wayne. Er öffnete die Tür und stieß seine Großmutter hinaus.
Es war, als würde er einen Sack Stöcke hinauswerfen. Sie hatte keinerlei Gewicht. Als ihr Körper auf dem Asphalt landete, zersprang er scheppernd. In diesem Moment wachte Wayne auf und befand sich in
Indiana
W ayne drehte den Kopf und blickte durch das Rückfenster. Eine Glasflasche rollte klirrend über den Asphalt. Manx hatte sie aus dem Fenster geworfen – es war nicht die erste. Offenbar glaubte Charlie Manx nicht an Recycling.
Als Wayne sich aufrichtete und sich mit den Händen über die Augen rieb, waren die Schneemänner verschwunden. Und ebenso der schlafende Mond, die Berge und das Christmasland, das in der Ferne funkelte wie ein Edelstein.
Er sah hohe grüne Maispflanzen und eine Bar mit einem grellen Neonschild, auf dem eine neun Meter große Blondine mit Minirock und Cowboystiefeln abgebildet war. Wenn das Schild umschaltete, stampfte sie mit dem Fuß auf, legte den Kopf in den Nacken und küsste die Nacht.
Manx betrachtete ihn im Rückspiegel. Wayne fühlte sich noch ein wenig schlaftrunken und nahm vielleicht deshalb völlig ungerührt zur Kenntnis, wie jung und gesund Manx plötzlich aussah.
Manx hatte den Hut abgenommen. Er hatte immer noch eine Glatze, aber seine Kopfhaut wirkte glatt und rosig und nicht mehr weiß und fleckig. Am Tag zuvor hatte sein Schädel noch wie ein Globus ausgesehen, auf dem einige höchst uneinladende Kontinente verzeichnet waren: die Insel Sarkom und der Nördliche Leberfleck zum Beispiel. Manx’ Augen schauten unter gewölbten Augenbrauen hervor, die die Farbe von Raureif hatten. Wayne konnte sich nicht erinnern, dass Manx in den vergangenen Tagen auch nur ein einziges Mal geblinzelt hätte. Womöglich besaß er gar keine Augenlider.
Gestern Morgen hatte Manx noch ausgesehen wie eine wandelnde Leiche. Jetzt wirkte er wie Mitte sechzig, lebendig und gesund. In seinen Augen lag jedoch der gierige Stumpfsinn eines Raubvogels, der Aas auf der Straße liegen sah und sich fragte, ob er es erreichen könnte, ohne überfahren zu werden.
»Haben Sie vor, mich zu essen?«, fragte Wayne.
Manx lachte heiser – das Krächzen einer Krähe.
»Wenn ich dich bisher noch nicht gebissen habe, werde ich das wohl auch in Zukunft nicht tun«, sagte Manx. »Es würde sich wahrscheinlich nicht lohnen. An dir ist nicht viel dran, und ehrlich gesagt müffelst du mittlerweile
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