Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
gemacht hat, diese finstere Macht, die sich über alles erhoben hat, die Wahrheit ausgelöscht hat…«
Nein. Sprache. Keine Wahrheit.
Die Weinflaschen waren leer, die Speisen verzehrt. Seine sehnigen Arme waren angespannt, zum Kampf bereit - aber für welchen Kampf? -, sein braunes Haar fiel über das Stirnband, und seine Augen waren riesig und fieberten.
Aber plötzlich drängte er gegen die Wand, als wollte er durch sie hindurch und fort von mir- in ferner Erinnerung an die Blutsauger, die ihm zugesetzt hatten, an die Ohnmacht, die Ekstase -, doch schon zog es ihn wieder in die andere Richtung, und taumelnd suchte er Halt an Gegenständen, die gar nicht da waren.
Seine Stimme aber war versiegt, und Enttäuschung malte sich in seinem Gesicht.
»Wie konntest du es mir nur vorenthalten?!« flüsterte er. Gedanken an die alte Magie, die strahlende Legende, die verborgenen Schichten, in denen alles Schattenhafte gedieh, ein Rausch aus verbotenem Wissen, in dem alle natürlichen Dinge unwichtig wurden. Die fallenden Herbstblätter entzaubert, die Sonne in den Baumkronen ohne jedes Geheimnis.
Nein.
Sein Körpergeruch schwelte aus ihm wie Weihrauch. Sein Herz klopfte unter der Haut seiner nackten Brust. Der kleine, feste Bauch erglänzte in Schweiß, und der Schweiß beizte den breiten Ledergürtel. Salzgeschwängertes Blut. Ich konnte kaum noch atmen.
Auch wir atmen. Wir atmen, und wir verfügen über einen Geschmacks- und einen Geruchs- und einen Tastsinn, und wir haben Durst.
»Du hast alles mißverstanden.« Ist das Lestat, der da spricht? Es hörte sich an, als würde irgendein abscheulicher Dämon versuchen, eine menschliche Stimme zu imitieren. »Du hast alles mißverstanden, was du je gesehen und gehört hast.«
»Ich hätte dich an allem teilhaben lassen!« Wut kochte wieder hoch. »Du warst es, der nichts verstanden hat«, flüsterte er.
»Wenn dir dein Leben lieb ist, nimm die Beine in die Hand und laufe fort, so schnell du kannst.«
»Begreifst du denn nicht, daß dies die Bestätigung für alles ist? Daß es das gibt, ist die Bestätigung - das unverfälschte Böse, das hehre Übel.« Triumphierende Blicke.
Plötzlich nahm er mein Gesicht in seine Hände.
»Verspotte mich nicht!« sagte ich. Ich versetzte ihm einen derartigen Schlag, daß er hintüberfiel und ernüchtert verstummte. »Als ich verlockt wurde, habe ich nein gesagt. Ich sage dir, ich habe nein gesagt. Mit meinem letzten Atemzug habe ich nein gesagt.«
»Du warst schon immer ein Narr«, sagte er. »Ich habe dir das schon früher gesagt.« Aber er brach zusammen. Er zitterte, und seine Wut wich tiefer Verzweiflung. »Du hast an Dinge geglaubt, die völlig nebensächlich waren«, sagte er fast sanft. »Es gibt etwas, das du nie verstanden hast. Ist es möglich, daß du selbst nicht einmal weißt, worüber du jetzt verfügst?«
Das Flackern seiner Augen wurde von Tränen verschleiert. Sein Gesicht krampfte sich zusammen. Unausgesprochene Worte kündeten von seiner Liebe. Und in einer Anwandlung schrecklichen Selbstbewußtseins wurde ich der tödlichen Macht gewahr, die ich über ihn hatte und um die er wußte, und meine Liebe zu ihm fachte das Bewußtsein dieser Macht noch weiter an und trieb es in heillose Verwirrung, bis es plötzlich zu etwas ganz anderem wurde.
Wir waren wieder hinter der Bühne im Theater; wir waren in der kleinen Dorfschänke in der Auvergne. Ich roch nicht nur sein Blut, sondern sein plötzliches Entsetzen. Er war einen Schritt zurückgewichen. Und diese Bewegung und der Anblick seines schreckensbleichen Gesichts schürten mein inneres Feuer nur noch weiter an.
Er schien kleiner, zerbrechlicher zu werden. Dennoch war er mir nie stärker und verführerischer vorgekommen als jetzt. Sein Gesicht wurde völlig regungslos, als ich mich ihm näherte. Seine Augen waren kristallklar. Und sein Geist eröffnete sich, wie sich Gabrielles Geist eröffnet hatte, und für den Bruchteil einer Sekunde loderte etwas von unserem Zusammensein in der Dachstube auf, von unseren endlosen Gesprächen, während das Mondlicht auf den schneebedeckten Dächern lag, von unseren weinseligen Spaziergängen durch Paris, die Köpfe gegen die ersten Regenschauer des Winters gebeugt, und wie noch eine ganze Ewigkeit vor uns zu liegen schien, bis wir erwachsen und alt wurden, und wie wir tausend Freuden im Elend erlebten, ja selbst im Elend, und wie das alles in seiner
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