Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
vollkommenen Friedens. Ach, wenn sie nur David von diesen Dingen erzählen könnte, von diesem großen und überwältigenden Geheimnis.
Jemand berührte sie. Jemand, der ihr feindlich gesonnen war. Widerstrebend drehte sie sich um und sah eine ungeschlachte Gestalt neben ihr. Was?
Knochige Gliedmaßen, schwarzes, zurückgekämmtes Haar, der häßliche Mund rot geschminkt, aber die Haut, die gleiche Haut. Und die Fangzähne. Kein Mensch. Einer von ihnen!
Talamasca’?
Instinktiv hob sie die Arme, kreuzte sie über der Brust, umklammerte die Schultern.
Talamasca’?
Sie wollte zurückweichen, aber seine Hand hielt sie fest, die Finger krallten sich in ihr Genick. Sie versuchte zu schreien, als er sie hochhob.
Dann flog sie durch die Halle, und sie schrie, bis ihr Kopf gegen die Wand prallte.
Schwärze. Sie sah den Schmerz. Er blitzte gelb und weiß auf, als er durch ihr Rückgrat fuhr und sich dann millionenfach in ihren Gliedern verzweigte. Ein neuerlicher Schmerz durchfuhr ihr Gesicht und ihre offenen Handflächen, als sie zu Boden fiel und dann auf den Rücken rollte.
Sie konnte nichts sehen. Vielleicht waren ihre Augen geschlossen, aber wenn das der Fall war, vermochte sie sie komischerweise nicht zu öffnen. Sie hörte Stimmen, Leute, die durcheinanderriefen. Das Trillern einer Pfeife, oder war es ein Glockenschlag? Ein donnerndes Geräusch, aber das war das Publikum, das da drinnen Beifall klatschte. Leute diskutierten.
Jemand ganz in ihrer Nähe sagte: »Rührt sie nicht an. Ihr Genick ist gebrochen!« Gebrochen? Konnte man denn mit gebrochenem Genick leben?
Jemand legte die Hand auf ihre Stirn. Aber sie nahm es nicht einmal als ein leises Prickeln wahr; als sei sie sehr kalt, als würde sie im Schnee gehen, als sei ihr der Gefühlssinn entwichen. Kann nicht sehen.
»Hör zu, Liebling.« Die Stimme eines jungen Mannes. Eine jener Stimmen, die man in Boston oder New Orleans oder New York City hören konnte. Feuerwehrmann, Polizist, barmherziger Samariter. »Wir kümmern uns um dich, Liebling.
Der Krankenwagen ist schon unterwegs.
Nun bleib schön ruhig liegen, Liebling, und mach dir mal keine Sorgen.«
Jemand berührte ihre Brust. Nein, nahm die Papiere aus ihrer Tasche. Jessica Miriam Reeves. Ja.
Sie stand neben Maharet, und sie sahen sich den riesigen Stammbaum mit all den kleinen Lichtern an. Und sie verstand. Jesse, die das Kind der Miriam war, die das Kind der Alice war, die das Kind der Carlotta war, die das Kind der Jeanne Marie war, die das Kind der Anne war, die das Kind der Janet Belle war, die das Kind der Elizabeth war, die das Kind der Louise war, die das Kind der Frances war, die das Kind der Frieda war, die das Kind der -
»Wenn Sie bitte gestatten, wir sind ihre Freunde -«
David.
Sie hoben sie hoch; sie hörte, wie sie schrie, aber sie hatte nicht absichtlich schreien wollen. Wiedersah sie den riesigen Stammbaum mit all den Namen. »Frieda, Kind der Dagmar, Kind der…«
»Sachte jetzt, sachte! Verdammt noch mal!«
Andere Luft, kalt und feucht; sie fühlte eine Brise über ihr Gesicht streichen, dann spürte sie nichts mehr in ihren Händen und Füßen. Sie spürte ihre Augenlider, konnte sie aber nicht bewegen.
Maharet sprach zu ihr. » … kam aus Palästina, um sich nach Mesopotamien und über Kleinasien nach Rußland und dann nach Osteuropa zu begeben. Verstehst du?«
Dies war entweder ein Leichen- oder ein Krankenwagen, und für den letzteren bewegte er sich allzu leise fort, und die Sirene ertönte aus zu weiter Ferne. Was war mit David los? Er hätte sie nicht im Stich gelassen, es sei denn, sie war tot.
Aber hätte David überhaupt dasein können? Er hatte ihr gesagt, daß er um keinen Preis kommen würde. David war nicht da. Sie mußte es sich eingebildet haben.
Und seltsamerweise war Miriam auch nicht da. »Heilige Maria, Mutter Gottes… jetzt in unserer letzten Stunde …«
Sie horchte: sie rasten durch die Stadt; sie spürte, wie sie um die Ecke bogen; aber wo war ihr Körper? Sie konnte ihn nicht spüren. Genickbruch. Das bedeutete unzweifelhaft, daß man tot war.
Was war das, das Licht, das sie durch den Dschungel sehen konnte? Ein Fluß?
Es war zu breit, um ein Fluß sein zu können. Wie sollte man ihn überqueren? Aber es war nicht Jesse, die durch den Dschungel und jetzt an dem Flußufer entlangging.
Es war jemand anderes. Doch sie konnte die Hände vor sich sehen, als seien es ihre eigenen, die die Lianen und schlaffen Blätter zur
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