Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
die Familie führte mich in Welten der Kunst ein, die mich eingeschüchtert haben könnten; die Familie war mein Führer durch Zeit und Raum. Mein Lehrer, mein Lebensbuch. Die Familie war alles.« Maharet schwieg. Einen Augenblick lang schien es, als wolle sie noch etwas sagen. Dann stand sie vom Tisch auf. Sie sah alle um sich herum an; dann blickte sie auf Jesse. »Ich möchte, daß ihr jetzt mit mir kommt. Ich möchte euch zeigen, was aus dieser Familie geworden ist.«
Still erhoben sich alle und folgten Maharet aus dem Raum. Sie folgten ihr über die eiserne Plattform im steinernen Treppenhaus in ein weiteres, ebenso hoch gelegenes Gemach mit gläsernem Dach und massiven Wänden.
Jesse trat als letzte ein, und noch bevor sie die Tür durchschritten hatte, wußte sie, was sie sehen würde. Ein feiner Schmerz durchfuhr sie, ein Schmerz voll erinnerten Glücks und unvergeßlicher Sehnsucht. Es war der fensterlose Raum, in dem sie vor langer Zeit gestanden war.
Ja, da war die große elektronische Weltkarte mit den abgeflachten Kontinenten, überzogen mit Abertausenden von winzigen brennenden Lichtern.
Und da waren die anderen drei Wände, so düster und scheinbar von einem feinen schwarzen Drahtgeflecht überzogen, bis man erkannte, was man sah: einen unendlichen, mit Tinte beschriebenen Weinstock, der jeden Zentimeter zwischen Boden und Decke austollte, von einer einzelnen Wurzel in einer Ecke sich verzweigend in eine Million dünner Kletterranken, und jede Ranke war umgeben von unzähligen, sorgsam eingetragenen Namen.
Ein Keuchen entfuhr Marius, als er sich herumdrehte und den Blick von der großen leuchtenden Karte auf den dichten und fein gezeichneten Stammbaum schweifen ließ. Armand dagegen zeigte ein schwaches, trauriges Lächeln, während Mael eher finster blickte, obwohl er in Wirklichkeit verblüfft war.
Die anderen starrten schweigend; Eric hatte von diesen Geheimnissen gewußt; Louis, der menschlichste von allen, hatte Tränen in den Augen. Daniel sah sich mit unverhülltem Erstaunen um, während Khayman mit wie von Traurigkeit trüben Augen die Karte anstarrte, als sähe er sie nicht, als blicke er immer noch tief in die Vergangenheit.
Gabrielle nickte langsam; sie gab ein leises Geräusch der Zustimmung, der Freude von sich. »Die Große Familie«, sagte sie schlicht anerkennend und sah Maharet an.
Maharet nickte. Sie zeigte auf die große, ausgedehnte Weltkarte hinter sich, die die Südwand einnahm.
»Dies sind meine Nachkommen«, sagte Maharet, »die Nachkommen von Miriam, die meine und Khaymans Tochter war, und meines Volkes, dessen Blut in mir und Miriam war, über die mütterliche Linie, wie ihr vor euch seht, über sechstausend Jahre zurückverfolgt.«
»Unvorstellbar!« flüsterte Pandora. Und auch sie war traurig und fast den Tränen nahe. Welch melancholische Schönheit sie besaß, erhaben und distanziert und doch mit einem Hauch von menschlicher Wärme, die ihr einst eigen gewesen sein mußte, natürlich, überwältigend.
Diese Enthüllung schien sie zu verletzen, sie an all das zu erinnern, was sie vor langer Zeit verloren hatte.
»Es ist nur eine einzige menschliche Familie«, sagte Maharet sanft. »Doch es gibt keine Nation auf der Erde, der nicht irgendeines ihrer Mitglieder angehört, und die Nachkommen der Männer, Blut von unserem Blut, aber ungezählt, sind mit Sicherheit genauso zahlreich wie jene, die namentlich bekannt sind. Viele, die in die Weiten Weißrußlands zogen oder nach China und Japan und in andere entlegene Gebiete, waren für diese Aufzeichnungen verloren. Wie auch viele von denen, deren Spur ich im Laufe der Jahrhunderte aus verschiedenen Gründen verloren habe. Dennoch gibt es ihre Nachkommen! Es gibt kein Volk, keine Rasse, kein Land, dem nicht einige aus der Großen Familie angehörten. Die Große Familie ist arabisch, jüdisch, angelsächsisch, afrikanisch; sie ist indisch; sie ist mongolisch; sie ist japanisch und chinesisch. Alles in allem: Die Große Familie ist die menschliche Familie.«
»Ja«, flüsterte Marius. Bemerkenswert die Rührung in seinem Gesicht; da waren wieder der leichte Anflug menschlicher Farbe und das feine Leuchten in den Augen, das sich jeder Beschreibung entzieht. »Eine Familie und alle Familien …«, sagte er. Er ging zu der riesigen Karte und hob hilflos die Hände, als er auf sie blickte und den Zug der Lichter über das sorgsam modellierte Terrain beobachtete. Jesse spürte,
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