Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
wie die Atmosphäre jener längst vergangenen Nacht sie umhüllte, und dann flackerten diese Erinnerungen für einen Augenblick auf und verschwanden, als ob sie keine Bedeutung mehr hätten. Sie war bei all den Geheimnissen, sie stand wieder in diesem Raum.
Sie ging näher an die dunkle, feine Gravierung an der Wand heran. Sie blickte auf die Myriaden winziger Namen, die mit schwarzer Tinte eingetragen waren, sie trat zurück und verfolgte den Verlauf eines Zweiges, eines dünnen, feinen Zweiges, der über hundert verschiedene Gabelungen und Krümmungen nach und nach zur Decke emporwuchs.
Und inmitten des Taumels, all ihre Träume verwirklicht zu sehen, gedachte sie liebevoll jener Seelen der Großen Familie, die sie gekannt hatte; dachte sie über die Rätsel der Vererbung und verwandtschaftlicher Nähe nach. Einen Moment lang fühlte sie sich aller Zeit entrückt, verspürte sie tiefen Frieden; sie sah nicht die weißen Gesichter ihrer neuen Verwandtschaft, sah nicht, wie die herrlichen unsterblichen Gestalten in grausiger Bewegungslosigkeit gefangen waren. Für sie existierte immer noch etwas von der realen Welt, etwas, das Schrecken und Kummer und vielleicht die schönste Liebe bewirkte, zu der sie je fähig gewesen war; und einen Moment lang schienen natürliche und übernatürliche Fähigkeiten gleichermaßen geheimnisvoll zu sein. Sie waren gleich mächtig. Und alle Wunder der Unsterblichen konnten diese ungeheure und einfache Chronik nicht in den Schatten stellen. Die Große Familie.
Ihre Hand hob sich wie von selbst. Und als das Licht auf Maels silbernes Armband fiel, das sie immer noch am Handgelenk trug, streckte sie schweigend die Finger auf der Wand aus. Einhundert Namen waren von ihrer Handfläche bedeckt. »Das ist jetzt bedroht«, sagte Marius mit vor Trauer sanfter Stimme, den Blick noch immer auf der Karte.
Es erschreckte sie, daß eine Stimme so laut und doch so sanft sein konnte. Nein, dachte sie, niemand wird der Großen Familie etwas zuleide tun. Niemand wird der Großen Familie etwas zuleide tun!
Sie wandte sich zu Maharet um; Maharet sah sie an. Da sind wir, dachte Jesse, die entgegengesetzten Enden des Weinstocks, Maharet und ich.
Ein entsetzlicher Schmerz wühlte in Jesse. Ein entsetzlicher Schmerz. Sich von allen Dingen wegtreiben zu lassen, das war unwiderstehlich gewesen, aber der Gedanke, daß alle realen Dinge ausgelöscht werden konnten, war unerträglich.
Während der langen Jahre bei den Talamasca, als sie Geister und ruhelose Gespenster erlebt hatte und Poltergeister, die ihre verwirrten Opfer erschreckten, und Hellseher, die in fremden Zungen sprachen, hatte sie immer gewußt, daß das Übernatürliche nie das Natürliche beherrschen konnte. Maharet hatte ja so recht!
Es war belanglos, ja, absolut belanglos - unfähig, sich einzumischen. Aber jetzt sollte sich das ändern. Das Unwirkliche war wirklich geworden. Es war absurd, in diesem seltsamen Raum zu stehen, mitten zwischen diesen starren und eindrucksvollen Gestalten, und zu sagen: Das ist nicht möglich. Dieses Wesen, dieses Wesen, das Die Mutter genannt wurde, konnte jederzeit aus der Deckung des Schleiers heraus angreifen, der sie lange vor sterblichen Augen verborgen hatte, und Millionen Menschenseelen treffen. Was sah Khayman, als er sie jetzt verständnisvoll anblickte? Sah er in Jesse seine Tochter? »Ja«, sagte Khayman. »Meine Tochter. Und fürchte dich nicht. Mekare wird kommen. Mekare wird den Fluch erfüllen. Und die Große Familie wird weiterleben.«
Maharet seufzte. »Als ich wußte, daß Die Mutter aufgestanden war, ahnte ich nicht, was sie tun könnte. Daß sie ihre Kinder niederstreckte, daß sie das Böse ausrotten wollte, das aus ihr und aus Khayman und aus uns allen, die wir aus Einsamkeit an dieser Macht teilhatten, gekommen war - das konnte ich nicht wirklich verurteilen! Welches Recht haben wir zu leben? Welches Recht haben wir, unsterblich zu sein? Wir sind Unfälle, wir sind Scheusale. Und obwohl ich leben will, so heftig und leidenschaftliche wie eh und je, kann ich nicht sagen, daß es unrecht ist, daß sie viele getötet hat…« »Sie wird noch mehr töten!« sagte Eric verzweifelt.
»Aber jetzt ist es die Große Familie, die in ihrem Schatten liegt«, sagte Maharet, »die Welt der Großen Familie! Und Akascha wird daraus ihre Welt machen. Wenn nicht…«
»Mekare wird kommen«, sagte Khayman. Das schlichteste Lächeln belebte sein Gesicht.
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