Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
ihn.
»Sag mir bitte, warum nicht.«
»Ich weiß es nicht«, sagte er noch einmal. »Ich weiß nur, ich kann nicht. Ich möchte. Glaube mir. Aber ich kann nicht. Meine Vergangenheit ist… so nah.« Er tat einen langen Seufzer und verfiel wieder für eine Weile in Schweigen. »Meine Erinnerungen an diese Tage sind so klar«, sagte er dann. »Es ist, als wäre ich wieder in Indien oder in Rio. Ah ja, Rio. Es ist, als wäre ich wieder dieser junge Mann.« Ich wußte, daß ich die Schuld daran trug. Ich wußte auch, daß es nutzlos wäre, Worte der Entschuldigung zu suchen. Und ich spürte noch etwas: Ich war ein böses Wesen, und selbst wenn ich in diesem Körper war, konnte David dieses Böse wahrnehmen. Er spürte die machtvolle vampirische Gier. Das Böse war schon alt, dumpf und schrecklich. Gretchen hatte es nicht gespürt. Ich hatte sie mit diesem warmen, lächelnden Körper täuschen können. Aber wenn David mich anschaute, sah er den blonden, blauäugigen Dämon, den er so gut kannte.
Ich sagte nichts. Ich schaute nur aufs Meer hinaus. Gib mir meinen Körper zurück, dachte ich. Laß mich der Teufel sein. Bring mich weg von diesem faden Verlangen und dieser Schwäche. Bring mich zurück in den dunklen Himmel, in den ich gehöre. Und plötzlich erschienen mir meine Einsamkeit und mein Elend so schrecklich wie nie zuvor in diesem Experiment, vor diesem kleinen Ausflug in verwundbares Fleisch. Ja, laß mich wieder hinaus. Laß mich ein Zuschauer sein. Wie hatte ich nur so töricht sein können?
Ich hörte, wie David etwas zu mir sagte, aber ich bekam die Worte kaum mit. Ich blickte auf, löste mich langsam aus meinen Gedanken und sah, daß er sich mir zugewandt hatte, und ich merkte, daß seine Hand sanft an meinem Hals lag. Ich wollte aufbrausen - nimm deine Hand weg, quäle mich nicht -, aber ich schwieg. »Nein, du bist nicht böse. Das ist es nicht«, flüsterte er. »Es liegt an mir, verstehst du denn nicht? An meiner Angst! Du weißt nicht, was dieses Abenteuer für mich bedeutet hat! Wieder hier sein zu können, in diesem Teil der großen Welt - und mit dir! Ich liebe dich. Ich liebe dich verzweifelt und wahnsinnig, ich liebe die Seele in dir, und -weißt du es denn nicht? - diese Seele ist nicht böse. Sie ist nicht gierig. Aber sie ist gewaltig. Sie überwältigt sogar diesen jugendlichen Körper, weil es deine Seele ist, wild und unbezähmbar und außerhalb der Zeit: die Seele des wahren Lestat! Ich kann ihr nicht nachgeben. Ich kann es nicht… tun. Ich werde mich für immer verlieren, wenn ich es tue, ebenso sicher, wie wenn … wie wenn …« Er brach ab, offensichtlich zu erschüttert, um weiterzusprechen. Der Schmerz in seiner Stimme war mir verhaßt, das leise Zittern, das ihre tiefe Festigkeit untergrub. Wie konnte ich mir jemals vergeben? Regungslos stand ich da und starrte an ihm vorbei in die Dunkelheit. Das wundervolle Donnern der Brandung und das leise Klappern der Palmen waren die einzigen Geräusche. Wie gewaltig der Himmel war; wie schön und tief und ruhig diese Stunden kurz vor dem Morgengrauen waren. Ich sah Gretchens Gesicht. Ich hörte ihre Stimme.
Es gab heute morgen einen Augenblick, da dachte ich, ich könnte alles wegwerfen - nur um mit dir zusammenzusein… Ich habe gespürt, wie es mich fortriß, ganz wie die Musik es früher tat. Und wenn du sagen wurdest: ›Komm mit mir‹, dann würde ich vielleicht auch jetzt noch mitgehen… Keuschheit bedeutet, sich nicht zu verlieben… Ich könnte mich in dich verlieben. Ich weiß es.
Und dann sah ich hinter diesem brennenden Bild, undeutlich, aber unübersehbar, Louis’ Gesicht, und ich hörte Worte in seiner Stimme, die ich doch vergessen wollte. Wo war David? Laß mich aufwachen aus diesen Erinnerungen. Ich will sie nicht. Ich blickte auf und sah ihn, sah in ihm die altvertraute Würde, die Zurückhaltung, die unbeirrbare Kraft. Aber ich sah auch den Schmerz.
»Verzeih mir«, sagte er leise. Seine Stimme klang immer noch unsicher, während er sich bemühte, die schöne und elegante Fassade zu wahren. »Du hast aus dem Quell der Jugend getrunken, als du das Blut Magnus’ trankst. Wirklich. Du wirst nie erfahren, was es bedeutet, der alte Mann zu sein, der ich jetzt bin. Gott helfe mir ich verabscheue das Wort, aber es ist wahr: Ich bin alt.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Mach dir keine Sorgen.« Ich beugte mich vor und küßte ihn noch einmal. »Ich werde dich in Ruhe lassen. Komm jetzt, wir sollten schlafen. Ich
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