Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
gewesen war.
Unterdessen hörte ich deutlich, wie David mit dem Kabinensteward plauderte; ihr singender britischer Tonfall schien sich im Verlaufe des Gesprächs noch zu verschärfen, und sie redeten allmählich so schnell, daß ich nicht mehr recht verfolgen konnte, was sie sagten.
Anscheinend ging es um den armen, leidenden Mr. Hamilton und darum, daß Dr. Stoker darauf erpicht war, sich hineinzuschleichen und einen Blick auf den Schlafenden zu werfen; der Steward aber hatte schreckliche Angst, so etwas zuzulassen. Ja, Dr. Stoker wollte sogar einen Zweitschlüssel für die Suite haben, damit er seinen Patienten aus nächster Nähe im Auge behalten konnte, für alle Fälle…
Während ich meinen Koffer auspackte, begriff ich nur allmählich, daß diese kleine Unterhaltung sich in all ihrer lyrischen Höflichkeit auf die Frage einer Bestechung zubewegte. Schließlich erklärte David auf überaus höfliche und rücksichtsvolle Weise, er verstehe das Unbehagen des Stewards, und er wolle, daß der gute Mann beim nächsten Landgang auf seine Kosten ein gutes Abendessen zu sich nehme. Sollte etwas schiefgehen und Mr. Hamilton sich aufregen, nun, dann werde David die ganze Schuld auf sich nehmen; er werde behaupten, er habe den Schlüssel aus der Pantry entwendet. Der Steward werde gar nicht erst in die Sache hineingezogen werden.
Wie es schien, war die Schlacht gewonnen. Tatsächlich hatte David offenbar seine nahezu hypnotische Überredungskraft aufgewendet. Gleichwohl folgte noch ein wenig höflicher und höchst überzeugender Unfug darüber, wie krank Mr. Hamilton sei, wie die Familie Dr. Stoker beauftragt habe, sich um ihn zu kümmern, und wie wichtig es sei, daß er einen Blick auf die Haut des jungen Herrn werfen könne. Ah ja, die Haut… Zweifellos schloß der Steward auf ein lebensbedrohliches Leiden. Und schließlich gestand er, daß alle anderen Stewards beim Essen seien; er sei gerade allein auf dem Signaldeck, und - jawohl - er werde ein Auge zudrücken, wenn Dr. Stoker absolut sicher sei…
»Mein lieber Mann, ich übernehme die Verantwortung für alles. Hier, nehmen Sie das für all die Umstände, die ich Ihnen bereitet habe. Gehen Sie essen, in irgendeinem hübschen - nein, nein, keinen Widerspruch. Überlassen Sie die Sache mir.«
Wenige Augenblicke später lag der schmale, hellerleuchtete Korridor verlassen da. Mit leisem, triumphierendem Lächeln winkte David mich zu sich hinaus. Er hielt den Schlüssel zur Queen-Victoria-Suite in der Hand. Wir gingen durch den Gang, und er schob ihn ins Schloß.
Die Suite war riesengroß und in zwei Ebenen aufgeteilt, die durch vier oder fünf teppichbelegte Stufen miteinander verbunden waren. Das Bett stand im unteren Bereich und war ziemlich zerwühlt; Kissen waren unter die Decke gestopft, um den Eindruck zu erwecken, hier schlafe tatsächlich jemand tief und fest und habe sich die Decke wie eine Kapuze über den Kopf gezogen. Auf der oberen Ebene befand sich die Sitzgruppe und die Glastür zum Balkon; die dicken Vorhänge waren zugezogen, so daß fast kein Licht hereinfiel. Wir schlüpften hinein, knipsten die Deckenlampe an und schlössen die Tür hinter uns.
Die Kissen, die auf das Bett gehäuft waren, waren eine ausgezeichnete Täuschung für jeden, der vom Gang hereinspähte, aber bei näherem Hinschauen sah es gar nicht wie eine absichtliche Vorsichtsmaßnahme, sondern einfach nur wie ein unordentliches Bett aus.
Wo also war der Teufel? Wo stand seine Kiste?
»Ah da«, wisperte ich. »Auf der anderen Seite des Bettes.« Ich hatte sie für eine Art Tisch gehalten, weil sie fast vollständig mit einem dekorativen Tuch drapiert war. Jetzt aber sah ich, daß es eine große schwarze, messingbeschlagene Stahltruhe war, sehr blank und auf alle Fälle groß genug, um einen Mann aufzunehmen, wenn er sich mit hochgezogenen Knien auf die Seite legte. Das dicke, dekorative Tuch, das darüberlag, war zweifellos am Deckel festgeklebt. Im alten Jahrhundert hatte ich diesen Trick oft selbst angewandt.
Alles andere war makellos; allerdings platzten die Schränke von teuren Kleidern fast aus den Nähten. Eine rasche Durchsuchung der Kommodenschubladen förderte keine bedeutsamen Unterlagen zutage. Offenbar trug er die wenigen Papiere, die er brauchte, am Körper bei sich, und dieser Körper war dort in der Truhe verborgen. Schmuck oder Geld war nirgends versteckt, soweit wir feststellen konnten. Aber wir fanden den Stapel frankierter Umschläge, die der Dämon
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