Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
der Glastür, und der Schweiß rann mir über Gesicht und Rücken, als ich auf die leere Stelle dort draußen schaute und Davids hastiges Flüstern an meinem Ohr spürte.
»Komm, alter Junge, laß uns in den Queen’s Grill gehen und zu Abend essen.«
Ich drehte mich um und sah seinen angestrengten Gesichtsausdruck. Natürlich war James immer noch nah genug, um uns beide zu hören! Um alles Außergewöhnliche zu hören, ohne absichtsvoll zu lauschen.
»Ja, in den Queen’s Grill.« Ich bemühte mich, nicht bewußt daran zu denken, wie Jake am Abend zuvor berichtet hatte, der Bursche sei noch nicht ein einziges Mal zum Essen in diesem Restaurant gewesen. »Ich habe eigentlich keinen Hunger, aber es ist schrecklich langweilig, nicht wahr, hier herumzusitzen.«
Auch David zitterte; aber auch er war sehr erregt.
»Oh, was ich dir sagen muß«, plauderte er unverändert gekünstelt, während wir durch die Lounge zurück und auf die nächste Treppe zuschlenderten, »dort oben trägt alles schwarze Krawatten; aber sie müssen uns trotzdem bedienen, weil wir heute erst an Bord gekommen sind.«
»Von mir aus können sie alle nackt sein. Es wird eine höllische Nacht werden.«
In dem berühmten Erster-Klasse-Speiseraum ging es ein bißchen gedämpfter und zivilisierter zu als in den anderen Räumlichkeiten, durch die wir gekommen waren. Mit seinen weißen Polstern und schwarzen Lackarbeiten war es ein ganz angenehmer Raum, großzügig von warmem Licht erhellt. Das Dekor war von harter, spröder Beschaffenheit, aber das galt ja für alles hier an Bord, und es war ganz und gar nicht häßlich. Auch das sorgsam zubereitete Essen war recht gut.
Ungefähr fünfundzwanzig Minuten waren vergangen, seit der dunkle Vogel ausgeflogen war, und so wagte ich es jetzt, ein paar schnelle Bemerkungen zu machen. »Er kann nicht ein Zehntel seiner Kräfte benutzen! Er hat eine Heidenangst davor.«
»Ja, dieser Meinung bin ich auch. Er hat solche Angst, daß er sich tatsächlich bewegt wie ein Betrunkener.«
»Ah, das ist es; du hast es erfaßt. Und er war keine fünf Meter weit von mir entfernt und hat nicht den Hauch meiner Anwesenheit gespürt.«
»Ich weiß, Lestat, glaube mir, ich weiß es genau. Mein Gott, es gibt so vieles, was ich dir nicht beigebracht habe. Ich habe dagestanden und euch beobachtet, und ich hatte schreckliche Angst, er könnte irgendwelche telekinetischen Bosheiten anstellen; ich hatte dich doch nicht im geringsten darauf vorbereitet, ihn abzuwehren.«
»David, wenn er seine Macht wirklich einsetzt, kann nichts ihn abwehren. Aber du siehst ja, er kann sie nicht benutzen. Und wenn er den Versuch unternehmen würde, dann würde ich mich auf meinen Instinkt verlassen, denn das ist alles, was du mir beigebracht hast.«
»Ja, das stimmt. Es läuft alles auf die Tricks hinaus, die du in deiner anderen Gestalt gekannt und verstanden hast. Ich hatte gestern nacht das Gefühl, daß du deinen Sieg am sichersten erreichst, wenn du vergißt, daß du sterblich bist, und dich benimmst, als seist du wieder der alte.«
»Kann sein«, sagte ich. »Ich weiß es wirklich nicht. Oh, dieser Anblick - ihn in meinem Körper zu sehen!«
»Pssst. Iß deine letzte Mahlzeit, und sprich nicht so laut.«
»Meine letzte Mahlzeit.« Ich lachte leise. »Aus ihm werde ich eine Mahlzeit machen, wenn ich ihn habe!« Ich verstummte, denn ich erkannte angewidert, daß ich von meinem eigenen Fleisch sprach. Ich schaute hinunter auf die lange, dunkelhäutige Hand, die das silberne Messer hielt. Empfand ich irgendwelche Zuneigung zu diesem Körper? Nein. Ich wollte meinen eigenen, und ich ertrug kaum den Gedanken, daß wir noch acht Stunden warten sollten, bevor es wieder meiner wäre.
Wir sahen ihn erst einige Zeit nach ein Uhr wieder.
Ich wußte, daß es ratsam war, den kleinen Udo-Club zu meiden, da man dort am besten tanzen konnte, was er gern tat, und weil es dort angenehm dunkel war. Statt dessen hockte ich in einem der größeren Salons herum. Eine dunkle Brille saß fest auf meiner Nase, und das Haar hatte ich mir mit einem dicken Klecks Pomade nach hinten geklebt; ein verwirrter junger Steward hatte mir das Zeug auf meine Bitte hin überlassen. Es störte mich nicht, daß ich gräßlich aussah. Ich fühlte mich anonym und sicher.
Als wir ihn entdeckten, befand er sich wieder in einem der äußeren Korridore; er ging in Richtung Casino. David ging ihm nach, um ihn zu beobachten, vor allem aber, weil er der Versuchung nicht
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