Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
einer Kleinstadt, in der ich nie gewesen war.
Ich dachte an eine Verlobte namens Barbara, von aufreizender Schönheit, und an einen Streit zwischen uns, der natürlich ebenfalls niemals stattgefunden hatte. Ich stopfte mir den Geist mit solchen Bildern voll und dachte an eine Million beliebiger Dinge - tropische Fische in einem kleinen Aquarium, die ich eines Tages gern hätte, und ob ich jetzt wohl in die Theatre Lounge gehen und mir die Show ansehen sollte oder nicht.
Die Kreatur nahm keine Notiz von mir. Ja, ich erkannte bald, daß sie überhaupt von niemandem Notiz nahm. Es hatte fast etwas Ergreifendes an sich, wie sie dasaß, das Gesicht leicht aufwärts gewandt und diesen dunklen, recht gewöhnlichen und jedenfalls ziemlich häßlichen Raum anscheinend genoß.
Er liebt das, dachte ich. Diese öffentlichen Räume mit ihrem Plastik und Flitter verkörpern irgendeinen Gipfel von Eleganz für ihn, und es erfüllt ihn mit wortlosem Entzücken, einfach nur hier zu sein. Er hat es gar nicht nötig, daß man ihn bemerkt. Er nimmt niemanden zur Kenntnis, der ihn vielleicht bemerkt. Er ist eine kleine Welt für sich, wie dieses Schiff eine solche Welt ist, während es pfeilschnell durch die warme See gleitet.
Und trotz meiner Angst fand ich es plötzlich herzzerreißend und tragisch. Und ich fragte mich, ob ich anderen nicht auch als ein solcher ermüdender Fehlschlag erschienen war, als ich mich in diesem Zustand befunden hatte. War ich ihnen nicht ebenso traurig vorgekommen?
Heftig zitternd nahm ich mein- Glas und stürzte den Drink hinunter, als wäre es Medizin; ich zog mich wieder hinter meine künstlichen Fantasiebilder zurück und verhüllte meine Angst damit, ja, ich summte sogar mit der Musik und beobachtete wie abwesend das Spiel der pastellfarbenen Lichter auf diesen wunderbaren goldenen Haaren.
Plötzlich rutschte er vom Hocker herunter. Er wandte sich nach links und ging sehr langsam durch die dunkle Bar, an mir vorbei, ohne mich zu sehen, und in den heller beleuchteten Bereich um das überdachte Schwimmbad. Er hielt das Kinn hoch erhoben, und seine Schritte waren so langsam und vorsichtig, als bereiteten sie ihm Schmerzen; er wandte den Kopf hin und her und musterte forschend den Raum, den er durchschritt. Auf die gleiche vorsichtige Weise, die in der Tat mehr auf Schwäche als auf Stärke schließen ließ, schob er die Glastür nach draußen auf und schlüpfte hinaus in die Nacht.
Ich mußte ihm folgen! Ich sollte es nicht tun; das wußte ich. Aber ich war auf den Beinen, ehe ich es verhindern konnte. Mein Kopf war vernebelt von der schweren Wolke meiner falschen Identität, als ich ihm nachlief und in der Tür stehenblieb. Ich sah ihn ganz hinten am Ende des Decks; er hatte die Arme auf die Reling gestützt, und der Wind wehte durch sein offenes Haar. Er schaute zum Himmel, und wieder schien es, als sei er in Stolz und Zufriedenheit getaucht, als liebe er vielleicht den Wind und die Dunkelheit und schwanke nur ein wenig hin und her, wie blinde Musiker es tun, wenn sie spielen, als genieße er jede vertickende Sekunde in diesem Körper und schwimme in purem Glück, während er hier stand.
Das herzzerreißende Gefühl des Wiedererkennens ging noch einmal über mich hinweg. War ich für diejenigen, die mich gekannt und verdammt hatten, auch ein solcher gescheiterter Narr gewesen? Oh, was für eine erbarmungswürdige, jämmerliche Kreatur, daß er sein übernatürliches Leben ausgerechnet hier verbracht hatte, an diesem so schmerzhaft künstlichen Ort, mit diesen alten, traurigen Passagieren, in kaum bemerkenswerten Gemächern von geschmackloser Pracht, isoliert vom großen Universum der wahren Herrlichkeit, die weit dahinter lag.
Erst nach geraumer Zeit senkte er den Kopf ein wenig und strich mit den Fingern der rechten Hand langsam an seinem Revers herunter. Eine Katze, die sich das Fell leckte, konnte nicht entspannter und selbstgefälliger aussehen. Wie liebevoll er dieses Stückchen unwichtigen Stoff streichelte! Diese Geste sprach beredter von der ganzen Tragik dieser Situation als irgend etwas anderes, das er getan hatte.
Dann drehte er den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, und als er nur ganz weit rechts zwei Passagiere sah, die aber in eine andere Richtung schauten, da erhob er sich plötzlich von den Decksplanken und war im nächsten Augenblick verschwunden!
Natürlich war das nicht wirklich der Fall. Er hatte sich einfach in die Lüfte erhoben. Und ich stand schaudernd hinter
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