Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Marius, das wahre Kind zweier Jahrtausende, der mich in die Tiefen unserer sinnlosen Geschichte hinabgeführt und mich zur Anbetung in den Tempel JENER, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN, gebeten hatte.
JENE, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN. Tot und dahin, wie Claudia. Denn die Könige und Königinnen unter uns können ebenso leicht zugrunde gehen wie zarte, kindliche Sprößlinge. Aber ich bestehe weiter. Ich bin hier. Ich bin stark. Und Marius hatte - wie Louis - gewußt, was ich litt! Er hatte es gewußt und sich geweigert zu helfen.
Die Wut in mir schwoll an und wurde immer gefährlicher. War Louis irgendwo auf der Straße, in der Nähe? Ich ballte die Fäuste und kämpfte gegen die Wut an, kämpfte gegen ihre Hilflosigkeit und dagegen, daß sie sich unweigerlich Ausdruck verschaffen würde.
Marius, du hast mir dm Rücken zugewandt. Das war eigentlich nicht überraschend. Du warst immer Lehrer, Vater, Hoherpriester. Ich verachte dich deshalb nicht. Aber Louis! Mein Louis, dir hätte ich nie etwas abschlagen können, und du hast mich zurückgewiesen!
Ich wußte, ich konnte nicht hierbleiben. Ich wagte nicht, ihn mir unter die Augen kommen zu lassen. Noch nicht.
Eine Stunde vor Sonnenaufgang brachte ich Mojo zurück in seinen kleinen Garten, küßte ihn zum Abschied und ging dann eilig zu den Außenbezirken der Altstadt, durch die Faubourg Marigny und schließlich hinaus ins Sumpfland, und dort streckte ich die Arme den Sternen entgegen, die so hell funkelnd über den Wolken schwebten, und ich schwang mich empor, höher und immer höher, bis ich mich im Lied des Windes verlor und auf seinen feinsten Strömungen dahinwirbelte, und die Freude, die ich an meinen Talenten hatte, erfüllte meine ganze Seele.
Dreißig
E ine ganze Woche mußte ich die Welt durchreist haben. Erst hatte ich mich in das verschneite Georgetown begeben und dort die zierliche, erbarmungswürdige junge Frau aufgespürt, die ich in meinem sterblichen Ich so unverzeihlich vergewaltigt hatte. Wie ein exotischer Vogel sah sie jetzt aus, und sie mühte sich, mich in der von Gerüchen durchzogenen Dunkelheit des gemütlichen kleinen Menschenrestaurants deutlich zu sehen; sie wollte nicht gleich zugeben, daß diese Begegnung mit »meinem französischen Freund« jemals stattgefunden hatte, und dann verschlug es ihr die Sprache, als ich ihr einen antiken Rosenkranz aus Smaragden und Diamanten in die Hand drückte. »Verkaufen Sie ihn, wenn Sie wollen, chérie « , sagte ich. »Er wollte, daß Sie ihn bekommen, was immer Sie damit anfangen möchten. Aber erzählen Sie mir noch eins. Haben Sie ein Kind empfangen?«
Sie schüttelte den Kopf und wisperte das Wort »nein«. Ich wollte sie küssen, denn sie war wieder schön für mich. Aber ich wagte es nicht. Nicht nur, daß es ihr angst gemacht hätte - nein, das Verlangen, sie zu töten, war nahezu überwältigend.
Irgendein wilder, durch und durch männlicher Instinkt in mir wollte sich ihrer jetzt einfach bemächtigen, nur weil ich mich ihrer zuvor auf andere Weise bemächtigt hatte.
Binnen weniger Stunden hatte ich die Neue Welt verlassen, und Nacht für Nacht wanderte ich durch die brodelnden Slums von Asien und jagte dort - in Bangkok, Hongkong und Singapur - und dann durch das trostlose, eisige Moskau und durch die bezaubernden alten Städte Wien und Prag. Für kurze Zeit ging ich nach Paris.
Nach London ging ich nicht. Ich trieb meine Geschwindigkeit auf die Spitze, stieg im Dunkel auf und stieß wieder hinab, und manchmal landete ich in Städten, deren Namen ich nicht kannte. Unaufhörlich nährte ich mich an den Verzweifelten und Bösartigen und dann und wann auch an den Verlorenen und den Wahnsinnigen und den Reinen und Unschuldigen, auf die mein Blick nur zufällig fiel.
Ich versuchte, nicht zu töten. Ich versuchte es. Außer wenn mein Opfer praktisch unwiderstehlich war, ein Bösewicht ersten Ranges. Und dann war sein Tod langsam und wild, und ich war immer noch hungrig, wenn es vorbei war, und auf der Suche nach einem weiteren Opfer, ehe die Sonne aufging.
Nie war ich so entspannt mit meinen Kräften umgegangen. Nie hatte ich mich so hoch in die Wolken erhoben, war ich so schnell gereist.
Ich wanderte stundenlang in den engen alten Straßen von Heidelberg und Lissabon und Madrid. Ich war in Athen und in Kairo und in Marrakesch. Ich wandelte an den Gestaden des Persischen Golfs und des Mittelmeers und der Adria. Was tat ich? Was dachte ich? Das alte Klischee stimmte die Welt war mein. Und
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