Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
einen Alkoven, erfüllt von unstetem, hübschem Licht.
Der Duft und die Geräusche des Regenwaldes kamen mir in Erinnerung, die alles umschließende Dunkelheit dieser mächtigen Bäume. Und dann sah ich die kleine, weißgekalkte Kapelle auf der Lichtung, deren Tür offenstand, und ich hörte den gespenstisch gedämpften Klang der Glocke im leisen Wind. Und ich roch das Blut, das aus den Wunden in Gretchens Händen floß.
Ich hob den langen Docht, der zum Anzünden der Kerzen bereitlag, hielt ihn in eine alte Flamme und ließ eine neue zum Leben erwachen; heiß und gelb und schließlich gleichmäßig, verströmte sie den Duft von verbranntem Wachs.
Eben wollte ich sagen: »Für Gretchen«, als ich erkannte, daß ich die Kerze nicht für sie angezündet hatte. Ich blickte ins Gesicht der Jungfrau. Ich sah das Kruzifix über Gretchens Altar. Wieder fühlte ich den Frieden des Regenwaldes um mich herum, und ich sah die kleine Krankenstation mit den kleinen Betten. Für Claudia, meine kostbare, schöne Claudia? Nein, auch für sie nicht, so sehr ich sie geliebt hatte…
Ich wußte, die Kerze war für mich.
Sie war für den Mann mit den braunen Haaren, der Gretchen in Georgetown geliebt hatte. Sie war für den traurigen, verlorenen Dämon mit den blauen Augen, der ich gewesen war, bevor ich zu jenem Mann geworden war. Sie war für den sterblichen Knaben, der vor Jahrhunderten nach Paris zog, mit nichts als dem Schmuck seiner Mutter in der Tasche und den Kleidern, die er am Leibe trug. Sie war für die böse, unbedachte Kreatur, die die sterbende Claudia in den Armen gehalten hatte.
Für alle diese Wesen war die Kerze, und für den Teufel, der jetzt hier stand, weil er Kerzen liebte und weil er es liebte, Licht aus Licht zu machen. Weil es keinen Gott gab, an den er glaubte, und keine Heiligen und keine Himmelskönigin.
Weil er seinen bitteren Zorn im Zaum gehalten und seinen Freund nicht vernichtet hatte.
Weil er allein war, so nah dieser Freund ihm auch sein mochte. Und weil das Glück zu ihm zurückgekehrt war wie eine Krankheit, die er nie ganz hatte besiegen können; schon breitete sich ja das Koboldlächeln wieder auf seinen Lippen aus, schon züngelte der Durst wieder in ihm empor, das Verlangen, ins Freie hinauszutreten und durch die glatten, glänzenden Straßen der Stadt zu streifen.
Ja. Für den Vampir Lestat war diese kleine Kerze, diese wunderbare kleine Kerze, die das Licht des Universums um eine winzige Kleinigkeit verstärkte. Die brannte in einer leeren Kirche die ganze Nacht inmitten all der anderen Kerzen. Sie würde auch am Morgen noch brennen, wenn die Gläubigen kämen, wenn die Sonnenstrahlen durch dieses Portal fielen.
Halte Wacht, du kleine Kerze, in Dunkelheit und Sonnenschein.
Ja. Für mich.
Zweiunddreißig
D achten Sie, die Geschichte sei zu Ende? Der vierte Teil der Vampirchroniken sei damit abgeschlossen? Nun, das Buch sollte zu Ende sein. Es hätte enden sollen, als ich die kleine Kerze anzündete, aber das tat es nicht. Das war mir klar, als ich am nächsten Abend die Augen aufschlug.
Bitte, fahren Sie mit Kapitel dreiunddreißig fort, wenn Sie wissen wollen, was als nächstes geschah. Sie können auch jetzt aufhören, wenn Sie wollen. Sie werden sich vielleicht noch wünschen. Sie hätten es getan.
Dreiunddreißig
B arbados.
Er war noch da, als ich zu ihm kam. In einem Hotel am Meer. Wochen waren vergangen; warum ich allerdings soviel Zeit verstreichen ließ, weiß ich nicht. Güte hatte nichts damit zu tun und Feigheit auch nicht. Gleichwohl hatte ich gewartet. Ich hatte zugesehen, wie die herrliche kleine Wohnung in der Rue Royale Schritt für Schritt wiederhergerichtet wurde, bis es zumindest ein paar vorzüglich eingerichtete Räume gab, in denen ich meine Zeit verbringen konnte, um über all das nachzudenken, was geschehen war und vielleicht noch stattfinden würde. Louis war wieder bei mir eingezogen; er war damit beschäftigt, einen Schreibtisch wie jenen zu suchen, der vor über hundert Jahren im Salon gestanden hatte.
David hatte bei meinem Agenten in Paris zahlreiche Botschaften hinterlassen. Er werde demnächst zum Karneval nach Rio reisen. Er vermisse mich. Er würde sich freuen, wenn ich mich dort unten mit ihm treffen wollte.
Die Regelung seines Nachlasses war gut verlaufen. Er war David Talbot, ein junger Cousin des alten Mannes, der in Miami gestorben war, und der neue Eigentümer des Familiensitzes. Die Talamasca hatte diese Dinge für ihn geregelt, ihm
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