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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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wenn ich auch die Schönen, die Vielversprechenden, die Wagemutigsten und Glanzvollen für meine Schmausereien wählte, so unterließ ich es doch nie, ihnen fantasievolle Visionen zu übermitteln, um ihre Furcht oder ihre Schmerzen zu unterdrücken.
    Ich war wahnsinnig. Da mir die »Plätze des Lichts«, wie wir es nannten, verwehrt waren, da mir selbst der tröstliche Besuch einer Kirche, und sei sie noch so klein, verboten war, und ich darauf fixiert, die finsteren Bräuche zu vervollkommnen, zog ich wie ein staubiges Gespenst durch die schwärzesten Gassen in Paris, und indem ich mit dem Wachs der Frömmelei und Bigotterie meine Ohren verstopfte, verwandelte ich die edelste Dichtung, die schönste Musik in lärmendes Getöse und war blind gegenüber der himmelstürmenden Majestät der Kathedralen und Paläste der Stadt.
    Der Orden verschlang meine ganze Liebe. Wir saßen im Dunkeln und sprachen darüber, wie man Satan am besten dienen könne, oder ob vielleicht einem schönen, kühnen Giftmischer unser dämonischer Pakt angeboten und er zu einem von uns gemacht werden solle. Aber manchmal überschritt ich die Linie des erträglichen Wahnsinns und geriet in einen Zustand, dessen Gefahren nur mir allein bekannt waren. Unser Unterschlupf befand sich in den Katakomben des großen Pariser Friedhofs Les Innocentes, und dort lag ich Nacht um Nacht in meiner Erdzelle und träumte, träumte immer den gleichen seltsamen, sinnlosen Traum: Was war aus der hübschen kleinen Kostbarkeit geworden, die meine sterbliche Mutter mir geschenkt hatte? Was war mit dem merkwürdigen Kunstgegenstand aus Podil geschehen, den sie aus dem Ikonenwinkel genommen und in meine Hand gelegt hatte das bunte Ei, leuchtend rot, mit den wunderhübschen, aufgemalten Sternen? Wo konnte es nur geblieben sein? Hatte ich es nicht, in dichtes Pelzwerk gehüllt, in einem goldenen Sarg zurückgelassen, in dem ich einst mein Lager besaß, ah, hatte das überhaupt je stattgefunden, dieses Leben, an das ich mich zu erinnern glaubte? In einer Stadt aus leuchtend weißen Palästen und mit glitzernden Kanälen und einem weiten, lieblichen Meer mit schnellen, eleganten Schiffen, deren Ruder sich im grauen Meer im gleichen Takt bewegten, als wären sie lebendig, diese Schiffe, so schön bemalt und oftmals mit Blumen geschmückt, ach, und die weißen Segel! Nein, das konnte nicht wirklich gewesen sein. Nicht auszudenken, ein goldenes Gelass mit goldenem Sarg darin, und dann dieser besondere Schatz, dieses zerbrechliche, entzückende Ding, dieses bemalte Ei, so spröde, so vollkommen, dessen bunte Außenhaut der beste Schutz für die geheimnisvolle Mischung Leben spendender Flüssigkeiten war - das waren schon merkwürdige Vorstellungen. Aber was war damit geschehen? Hatte es jemand gefunden?
    Das musste wohl so sein.
    Entweder das, oder es war noch dort, tief unter einem Palazzo verborgen, in einer schwimmenden Stadt, versteckt in einem vor dem Wasser geschützten Gewölbe, das unter der Lagune tief in die Erde getrieben worden war. Nein, niemals. So nicht. Da nicht. Nicht daran denken. Nicht daran denken, dass dieses Ding in ungeweihte Hände fallen konnte. Und du weißt doch, du verlogene, trügerische kleine Seele, du bist niemals mehr dorthin zurückgekehrt, nicht zu einem Ort, wie es die Unterstadt mit den eisigen, feuchten Straßen war, wo dein Vater - ein Mythos, eine unsinnige Gestalt, ganz gewiss! - von dir gereichten Wein trank und dir vergab, dass du gegangen warst, um dich in einen seltsamen, dunklen Vogel zu verwandeln, einen Vogel der Nacht, der sich höher in die Lüfte schwang als die Kuppeln von Kiew, so als habe jemand dieses Ei zerbrochen, dieses so geschickt und wunderbar bemalte Ei, das deine Mutter, die es immer gehütet hatte, dir gab, ja, als hätte jemand ganz gemein den Daumen hineingebohrt, und aus diesem verdorbenen, stinkenden Brei kamst du zur Welt, ein Vogel der Nacht, der sich hoch über die rauchenden Kamine Podils erhob, hoch über die Kuppeln Kiews, immer höher und weiter fort, über die wilde Steppe und die ganze Welt hinweg, hinein in diesen finsteren Forst, diesen tiefen, dunklen, endlosen Wald, aus dem du niemals entkommen wirst - die kalte, trostlose Wildnis der hungrigen Wölfe, der nagenden Ratten, der kriechenden Würmer und schreienden Opfer.
    Dann pflegte Allesandra zu kommen. »Wach auf, Armand, wach auf! Du hast wieder diesen bösen Traum, der den Wahnsinn ankündigt. Kind, du kannst mich nicht verlassen, nein, ich

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