Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
betrachtete auch gern die Fotografien, die ich Ihnen gezeigt habe. Er war ein interessanter Mann.«
Abermals trat eine lange Pause ein. Etwas in der Atmosphäre des Hauses beunruhigte mich. Es war ein verwirrendes Gefühl. Es stand in keinem Zusammenhang mit den normalen Geräuschen oder Aktivitäten. Und es schien mir plötzlich ungeheuer wichtig, dass ich meine Unruhe vor Merrick verbarg, damit diese wie auch immer geartete Sache sie nicht gerade jetzt bekümmerte. Es kam mir vor, als hätte jemand Neues, Fremdes das Haus betreten und man könnte sein verstohlenes Umherschleichen hö ren. Es war das gefühlsmäßige Erfassen einer Anwesenheit. Ich schob den Gedanken daran erst einmal auf, da es mir keine Angst machte, und konzentrierte mich auf Merrick, als sie, wie in einer Art Trance, sehr hastig und mit farbloser Stimme ihre Erzählung wieder aufnahm.
»Oben in Boston hatte Matthew Geschichtswissenschaft studiert. Er wusste alles über Mexiko und den Dschungel. Er hat mir von den Olmeken erzählt. Als wir in Mexiko waren, nahm er mich mit ins Museum. Er wollte auch dafür sorgen, dass ich zur Schule gehen konnte. Er hatte überhaupt keine Angst im Dschungel. Er meinte, dass die Impfungen uns schützen würden. Er verbot uns auch, das Wasser zu trinken. Und er war reich, das habe ich Ihnen ja schon gesagt, und er hätte nie versucht, Cold Sandra oder mir diese Sachen fortzunehmen.« Ihre Augen blieben fest auf einen Punkt fixiert. Immer noch spürte ich ganz deutlich diese fremde Wesenheit im Haus, und mir wurde klar, dass Merrick es nicht spürte. Auch Aaron merkte nichts davon. Aber da war etwas. Und es war nicht allzu weit von unserer Runde entfernt. Ich konzentrierte mich mit meinem ganzen Wesen auf Merrick.
»Onkel Vervain hat uns eine Menge hinterlassen. Ich zeige es Ihnen noch. Onkel Vervain sagte, unsere Wurzeln wären dort unten in den Dschungelländern und später in Haiti - ehe unsere Familie hierher kam. Er sagte, wir wären nicht wie die schwarzen Amerikaner, wenn er auch nie das Wort ›schwarz‹ aussprach. Er sagte immer ›farbig‹. Er hielt es für höflicher. Cold Sandra lachte ihn deswegen immer aus. Onkel Vervain war ein mächtiger Zaubermeister und sein Großvater davor auch. Onkel Vervain erzählte immer Geschichten über das, was der Alte Mann fertig brachte.« Ich merkte, dass ihr leiser Redefluss immer schneller wurde. Die ganze lange Familiengeschichte strömte aus ihr heraus. »Der Alte Mann - so habe ich ihn immer genannt. Er war ein Voodoo-Mann, damals im Bürgerkrieg. Er ging zurück nach Haiti, um dort mehr zu lernen, und als er in diese Stadt zurückkehrte, nahm er sie im Sturm, wird behauptet. Natürlich redete man über Marie Laveau, aber man redete auch über den Alten Mann. Manchmal kann ich sie in meiner Nähe spüren, den Alten Mann und Onkel Vervain, und Lucy Nancy Marie Mayfair ebenfalls, die von dem Foto. Und die andere, eine große Voodoo-Königin, die sie Hübsche Justine nannten. Man sagt, dass alle vor ihr Angst hatten.«
»Was wünschst du dir für dich selbst, Merrick?«, fragte ich unvermittelt, bemüht, ihre immer hastiger dahinfließenden Worte zu stoppen. Sie schaute mich durchdringend an, und dann lächelte sie. »Ich will gebildet werden, Mr. Talbot. Ich will zur Schule gehen.«
»Ah, wie wunderbar«, flüsterte ich.
»Ich habe es schon Mr. Lightner gesagt«, fuhr sie fort, »und er sagte , Sie könnten das bewerkstelligen. Ich will auf eine erstklassige Schule gehen, wo ich Griechisch und Latein lernen kann und wo man mir zeigt, welche Gabel man für den Salat und welche für den Fisch benutzt. Ich will alles über Magie lernen, so wie Matthew, der mir so vieles aus der Bibel erzählt hat und diese ganzen alten Bücher durchgelesen hatte und echte Magie erkennen konnte. Matthew musste nie für seinen Lebensunterhalt arbeiten. Ich schätze, ich werde dafür arbeiten müssen. Aber ich will eine gute Erziehung, und ich glaube, Sie wissen, was ich damit meine.«
Sie hielt ihren Blick auf mich gerichtet. Ihre Augen waren trocken und klar, und in diesem Moment wurde mir mehr als je zuvor bewusst, wie schön die Farbe ihrer Augen war, die ich ja zuvor schon erwähnte. Sie sprach weiter, nun etwas langsamer und ruhiger, mit beinahe melodischer Stimme.
»Mr. Lightner sagt, dass alle eure Mitglieder gebildet und gut erzogen sind. Kurz bevor Sie herkamen, hatte er es erwähnt. Ich sehe es auch bei den Leuten im Mutterhaus, schon an der Art, wie sie sprechen.
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