Cinderellas letztes Date
vergrub das Gesicht in den Händen. Am liebsten wäre sie für immer hier am See geblieben und hätte sich so Clarissa nahe gefühlt. Aber Jammern und Selbstmitleid brachten niemand weiter. So raffte sie sich auf, strich zum Abschied über den Baumstamm und ging zurück zum Parkplatz. Sie schwang sich auf ihre Maschine und fuhr zurück ins Studentenwohnheim.
„Der Brief auf der Kommode ist für dich.“ Emma saß an ihrem Schreibtisch und spielte die aktuelle Version der „Sims“.
„Von wem?“ Ruby nahm den Umschlag von der Kommode. Auf seiner Vorderseite stand in Druckbuchstaben ihr Name. Sie ertastete darin einen harten, quadratischen Gegenstand.
„Vielleicht von deinem Cop“, antwortete Emma und sah von ihrem Computerspiel auf. „Keine Ahnung. Ich bin kurz aus dem Zimmer gegangen. Musste aufs Klo. Als ich zurückkam, lag der Umschlag mitten auf dem Boden. Da wollte wohl jemand, dass sein Geschenk auf keinen Fall übersehen wird.“
„Wie kommst du darauf, dass es ein Geschenk ist?“ Ruby riss den Umschlag auf.
„Na ja, was soll es sonst sein? Der Inhalt fühlt sich nach einer CD an. Okay, es ist ein bisschen lieblos verpackt. Aber das spricht für das Geschenk eines Typen. Heterosexuelle Männer haben meist keinen Sinn für schöne Verpackungen. Für die ist das Schnickschnack. Bei den Schwulen sieht das schon anders aus …“
Ein Geschenk von Billy? Was konnte das sein? Ruby fasste in den Umschlag und zog eine CD heraus.
„Wusste ich’s doch, Musik“, tönte Emma von ihrem Platz. „Leg mal in deinen Computer rein. Mal hören, worauf dein Cop so steht. Bestimmt Kuschelrock als Friedensangebot. Ihr habt euch doch gestritten, oder? Ich kenne deinen Gesichtsausdruck, wenn ein Typ blöd zu dir war.“
„Lass mich in Ruhe! Zwischen mir und Billy läuft nichts.“
„Klar.“ Emma grinste spöttisch. Ihr Handy klingelte, und sie nahm den Anruf entgegen. „Oh, hallo Sophie. Warte einen Moment … Ich gehe raus“, sagte sie zu Ruby. „Vielleicht hat er dir ja eine Liebeserklärung oder sogar ein Gedicht raufgesprochen.“ Sie kicherte.
„Du bist so albern.“ Ruby schlug spielerisch nach ihr.
Nachdem Emma die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaltete Ruby ihren PC an und legte die CD ein. Sie betrachtete die unbeschriftete Hülle. Seltsam. Wenn Billy ihr Songs aufgenommen hatte, hätte er sich wenigstens die Zeit nehmen können, die Titel und die Namen der Interpreten hinzuzufügen.
„Hallo, Schatz. Bist du mir noch böse?“, tönte es aus den Lautsprechern. Und Ruby erstarrte. Clarissa! Es war ihre Stimme.
„Ich sollte dir noch böse sein. Aber ich kann nicht. Das weißt du ganz genau“, antwortete eine tiefe, melodische Männerstimme, die Ruby kannte, aber vor Schock nicht sofort zuordnen konnte.
„Liebst du mich noch?“, säuselte Clarissa kokett.
„Was für eine Frage. Ich werde dich immer lieben.“
Mein Gott, wer war der Typ? Ruby drehte die Lautstärke höher.
„Gut, wenn du mich so sehr liebst, wie du sagst, dann musst du endlich zu mir stehen.“ Clarissas Säuseln wich einem Nörgeln. „Mein Dad gibt mir kein Geld mehr. Ich soll wieder zu meinen Eltern ziehen. Das kommt überhaupt nicht infrage. Ich ziehe zu dir.“ Ihre Stimme klang wieder lieb und süß. Sie wusste wahrhaftig, wie man Männer manipulierte. „Du hast mir schon vor einer ganzen Weile versprochen, dass du dich für mich von deiner Frau trennst. Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt … Liebling.“
Stille. Der Mann antwortete nicht.
„Nun sag schon was!“, zischte Ruby. Sie hatte den Sprecher immer noch nicht identifiziert.
„Mein süßes, kleines Mädchen“, sagte der Mann. „Eine Trennung oder gar eine Scheidung sind nicht so einfach. Ashbury ist eine konservative Stadt. Ich stehe in der Öffentlichkeit. Das kann mich meinen Job kosten.“
„Bürgermeister White!“, stieß Ruby hervor. „O mein Gott! Clarissas väterlicher Liebhaber ist Onkel David, Dads bester Freund.“ Ihre Gedanken rasten. Schlagartig verstand sie Clarissas Bemerkung, wieso ihre Eltern über die Wahl ihres neuen „Mitbewohners“ schockiert sein würden. Und White entsprach der Beschreibung, die der Casinoangestellte von dem distinguierten Herrn mittleren Alters gegeben hatte.
„Ich wusste es, du liebst mich nicht“, keifte Clarissa auf der CD los. „Du wolltest nur mit mir ins Bett. Jetzt hast du genug, und ich soll das Feld räumen, damit deine Karriere nicht gefährdet wird.“
„Aber Schätzchen, das
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