Circus
schließlich lächelte sie und sagte gar nichts. Bruno verabschiedete sich und ging.
Kan Dahn streckte eine Hand aus, klappte die Blende der Nachttischlampe herunter und richtete den noch verbliebenen trüben Lichtschimmer so, daß er nicht auf das Gesicht des Mädchens fiel und ihn in tiefer Dunkelheit ließ. Dann nahm er ihre Hand in seine mächtige Pranke.
»Schlafen Sie gut, meine Kleine. Ich möchte ja nicht angeben, aber Sie können ganz beruhigt schlafen.«
»Sie können doch in diesem Sessel nicht schlafen?«
»Ob ich könnte, weiß ich nicht, ich werde es jedenfalls nicht tun. Schlafen werde ich erst morgen wieder.«
»Sie haben die Tür nicht abgesperrt.«
»Nein«, bestätigte er vergnügt, »das habe ich nicht.«
Eine Minute später schlief sie bereits, und es kam sie in dieser Nacht auch niemand besuchen, was für die Gesundheit desjenigen, der vielleicht mit dem Gedanken gespielt hatte, unbedingt von Vorteil war.
6
D ie Ankunft und das Entladen in Genua verliefen reibungslos und beanspruchten nur kurze Zeit. Wrinfield war ruhig wie immer und völlig Herr der Lage, und wer ihn sah, wäre niemals auf den Gedanken gekommen, daß sein Lieblingsneffe, der ihm eigentlich wie ein Sohn gewesen war, in der vorangegangenen Nacht ums Leben gekommen war. Wrinfield war mit Leib und Seele Circusmann, und auch für ihn galt das Prinzip, daß die Show weitergehen mußte, was immer auch geschah.
Der Zug wurde mit Hilfe einer kleinen Rangierlok aneinandergekoppelt und zu einem etwa eine Meile entfernten Rangierbahnhof gezogen, wo einige leere Waggons und Vorräte für Tiere und Menschen bereitstanden. Am späten Nachmittag waren alle Vorbereitungen beendet, die kleine Rangierlok wurde abgekoppelt und durch eine riesige, italienische Lokomotive ersetzt, die den Zug über die Berge ziehen sollte. Bei Einbruch der Dunkelheit fuhr der Zug in Richtung Mailand los.
Die Gastspiele in Europa – in drei westeuropäischen und sieben osteuropäischen Ländern – erwiesen sich als wahrer Triumphzug, und der Ruhm, der dem Circus voraneilte, sorgte in jeder neuen Stadt für einen noch begeisterteren Empfang, bis es schließlich soweit kam, daß jeder zur Verfügung stehende Sitzplatz in der jeweiligen Halle zwölfmal hätte verkauft werden können – und einige der Hallen waren bedeutend größer als die in den Vereinigten Staaten. Weit größere Menschenmengen begrüßten und verabschiedeten den Circus, als die, die sich bei der Ankunft von berühmten Rockgruppen oder einer siegreichen Fußballmannschaft versammelten.
Tesco Wrinfield hatte entschlossen und mit großer Willensanstrengung die Vergangenheit hinter sich gelassen. Er war ganz in seinem Element: Er schwelgte geradezu in Organisationsproblemen, die andere Menschen hätten verzagen lassen. Er kannte Europa, vor allem Osteuropa, woher er die meisten seiner außergewöhnlichen Nummern geholt hatte, so gut wie jeder Europäer im Zug und ganz gewiß besser als irgendeiner seiner in Amerika geborenen Artisten oder Arbeiter. Er wußte, daß das Publikum hier die Feinheiten mehr zu schätzen wußte, als das amerikanische und kanadische, und als die Zeitungen seinen Circus immer häufiger als den größten aller Zeiten bezeichneten, war das wahrer Balsam für seine Seele. Und noch berauschender – falls das überhaupt möglich war – war für ihn die Tatsache, daß er in den Zeitungsartikeln immer wieder als größter Showmann aller Zeiten gepriesen wurde. Aber auch die nüchterne Seite des Erfolges erfüllte ihn mit ausgesprochenem Wohlgefallen: Die stets ausverkauften Häuser und die dadurch schwindelnd hohen Gewinne machten die Lektüre der Hauptbücher zu einem wahren Hochgenuß – man kann kein großer Showmann sein, ohne gleichzeitig ein großer Geschäftsmann zu sein. Schließlich war es soweit, daß er auch ohne die Hilfe der Vereinigten Staaten einen sehr anständigen Gewinn aus dieser Tournee herausgeschlagen hätte. Aber er hatte natürlich nicht die Absicht, das der Regierung auf die Nase zu binden.
Mindestens ebenso glücklich wie Wrinfield waren diejenigen seiner Artisten, die aus Osteuropa stammten, und das traf fast auf die Hälfte zu. Für sie, vor allem für die Ungarn, Bulgaren und Rumänen, deren Circusschulen wahrscheinlich die besten der Welt waren, bedeutete die Tournee eine langersehnte Heimkehr. Vor diesem Publikum, das ihnen so nahestand wie kein anderes, erreichten sie Höhen artistischen Könnens wie nie zuvor und übertrafen sich
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