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Circus

Circus

Titel: Circus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alistair MacLean
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eiligen Schrittes bis zu einem kleinen Seitenweg, in den er einbog. Dann trat er durch ein Tor in einem Zaun, sprang in die Luft, um die Schnur zu erreichen, an der man die Feuerleiter herunterziehen konnte, stieg die Feuerleiter bis zum Ende hinauf und zog sich auf das Dach hoch. Die Überquerung des Daches war in etwa mit einer Durchquerung des Amazonas-Dschungels zu vergleichen: Irgendein Waldfan hatte in mit Erde gefüllten Töpfen und Kübeln Büsche und Koniferen gepflanzt, die bis zu sechs Meter hoch waren, und unglaublicherweise zwei diagonal über das Dach verlaufende, sorgfältig gestutzte Hecken und eine weitere, die die Seite des Daches säumte, die zur Hauptstraße hin lag. Sogar in dieser konformistischen Gesellschaft konnte die Leidenschaft nach ein bißchen Intimsphäre nicht verleugnet werden. Roebuck befand sich auf dem Dach, das Dr. Harper auf der ersten Fahrt vom Bahnhof zum ›Winterpalast‹ aufgefallen war.
    Roebuck zog die Begrenzungshecke mit den Händen auseinander und spähte durch die Lücke: Auf der anderen Straßenseite und etwa viereinhalb Meter höher gelegen als das Dach, auf dem er stand, lag der Wachtturm an der Südwestecke der ›Lubylan‹. In Größe und Form erinnerte er eindeutig an eine Telefonzelle. Er bestand unten bis zu einer Höhe von anderthalb Metern aus Holz oder Metall, der obere Teil war verglast. Es war eindeutig, daß er nur mit einem Mann besetzt war, denn Roebuck konnte ihn in dem Licht, das in dem Turm brannte, genau sehen. Plötzlich flammte ein Suchscheinwerfer auf, der etwa sechzig Zentimeter über dem Dach des Turmes installiert war. Sein Licht wanderte über den westlichen Rand des Daches, aber der Lichtstrahl war nach unten gerichtet, damit der Wachtposten auf dem Nordwestturm nicht geblendet wurde. Dann ging das Licht aus, erwachte von neuem zum Leben und strich diesmal über den südlichen Rand des Daches. Und diesmal schien es der Wachtposten nicht eilig zu haben, den Scheinwerfer wieder auszuschalten. Er zündete sich eine Zigarette an und hob dann eine Taschenflasche an den Mund. Roebuck hoffte inständig, daß der Scheinwerfer noch eine Weile anblieb – solange er leuchtete, sah der Posten nicht, was sich im Dunkeln abspielte. Die gebogenen Stahlspitzen des elektrischen Zaunes befanden sich auf gleicher Höhe mit dem Fußboden des Wachtturms. Die Entfernung betrug, den Steigungswinkel eingerechnet, etwa dreizehneinhalb Meter. Roebuck trat ein paar Schritte von der Hecke zurück, segnete denjenigen, dessen Drang nach Intimleben ihn zu solch üppiger Gartenbaukultur veranlaßt hatte, nahm das zusammengerollte Seil von der Schulter und faßte etwa acht Schlingen zusammen. Das andere Ende des Seils war bereits zu einer Gleitschlinge geschlungen. Das Seil selbst, kaum so dick wie eine durchschnittliche Wäscheleine, sah aus, als könne man es höchstens dazu verwenden, ein Paket zu verschnüren. Aber der Eindruck täuschte – es war aus stahlverstärktem Nylon und riß erst bei einer Belastung von 1.400 Pfund. Roebuck bog wieder die Hecke auseinander und spähte nach unten. Kan Dahn und Manuelo standen, scheinbar in einen Plausch vertieft, an der Ecke, an der die südliche Seitenstraße in die Hauptstraße mündete. Roebuck stellte sich auf das Geländer, schwang das Seil einmal über seinem Kopf und ließ beim zweitenmal los. Mit spielerischer Leichtigkeit zischte das Seil durch die Luft und fiel schließlich genau über die beiden Stahlspitzen, die Roebuck sich ausgesucht hatte. Er machte keinen Versuch, die Gleitschlinge fest anzuziehen, denn damit hätte er riskiert, daß sie von den auswärts gebogenen Spitzen abrutschte. Er sammelte das Stück Seil auf, das ihm noch verblieben war und warf es so auf die Straße hinunter, daß es genau vor Kan Dahn und Manuelo landete. Sie hoben es auf und gingen damit die südliche Straße hinunter: Die Schlinge zog sich zusammen und saß schließlich fest.
    Die Hälfte seines Weges über das Starkstromkabel brachte Bruno ohne nennenswerte Schwierigkeiten hinter sich, aber der zweite Teil stellte die höchsten Ansprüche an seine angeborenen Fähigkeiten – sein Reaktionsvermögen und seinen hervorragenden Gleichgewichtssinn. Er hatte nicht damit gerechnet, daß das Kabel so weit durchhängen würde und auch nicht damit, daß er so steil aufwärts würde gehen müssen. Und er hatte auch nicht die immer häufiger auftretenden Windstöße einkalkuliert. Sie waren zwar nicht heftig, aber für einen Mann in

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