Circus
Mauer, ließ dreimal hintereinander ganz kurz seine Taschenlampe aufleuchten und nach dem drittenmal brennen. Aus der Nebenstraße unten blitzte als Antwort ebenfalls ein Lichtstrahl auf.
Bruno schaltete seine Lampe aus, zog aus einer großen Tasche seines Anzugs ein langes Seil und ließ es über die Mauer hinunter. Als er spürte, daß leicht daran gezogen wurde, begann er sofort, es wieder einzuholen, und gleich darauf hatte er das andere Ende des Seils in der Hand, das Roebuck um die beiden Stahlspitzen an der Südwestecke der ›Lubylan‹ gelegt hatte. Er zog es fest an, aber nicht zu fest – die Stahlverstärkung des Nylonseils würde dafür sorgen, daß der Durchhang kaum zu merken war –, und befestigte es sorgfältig. Damit hatte er jetzt ein Seil, das neunzig Zentimeter bis ein Meter unter dem unteren Rand des Stahlspitzenzaunes an der Außenseite der gesamten Südmauer entlanglief. Für einen Mann seiner Fähigkeiten bedeutete der Weg über dieses Seil nicht mehr als für einen normalen Sterblichen ein Spaziergang auf einem Bürgersteig.
Zum Südwestturm waren es fünfzig Meter, und er brauchte für diese Strecke nur knapp drei Minuten. Mit dem Seil unter sich und dem untersten Rand des Stahlspitzenzaunes neben sich zum Festhalten machte ihm der Weg wirklich nicht die geringsten Schwierigkeiten. Einmal mußte er sich, aber nur für einen Augenblick, tief ducken, um nicht von dem Suchscheinwerfer erfaßt zu werden, der von dem Wachtturm aufleuchtete, auf den er zuging, und die ganze Südmauer bestrich, aber er war keinen Augenblick ernsthaft in Gefahr, entdeckt zu werden. Und bereits eine Minute nach seinem Eintreffen im Wachtturm hatte auch der dritte Posten vorübergehend jedes Interesse an der weiteren Entwicklung der Dinge verloren.
Bruno hielt seine Taschenlampe nach unten und blinkte viermal, um den unten Stehenden mitzuteilen, daß er zwar angekommen war, sie aber noch warten sollten. Auf dem Nordwestturm versah noch immer ein Wachtposten ungestört seinen Dienst. Es konnte zwar sein, daß die Posten die Suchscheinwerfer ganz nach Lust und Laune ein- und ausschalteten, es konnte aber genausogut auch sein, daß sie einen verabredeten Zeitplan einhielten, so unregelmäßig er auch sein mochte. Auf jeden Fall konnte Bruno es sich nicht leisten, auch nur das kleinste Mißtrauen zu erwecken. Er wartete, bis der noch übrige Posten das Licht seines Scheinwerfers ein paarmal über die Mauer hatte wandern lassen, ließ sich auf das Dach des Forschungsgebäudes hinunter – wie bei dem östlich gelegenen Gegenstück lag es auch hier anderthalb Meter tiefer als der obere Rand der Mauer – und überquerte es lautlos. Offensichtlich hatte der Posten nicht das geringste bemerkt – er ließ sich genauso leicht außer Gefecht setzen wie seine Kollegen. Bruno schlich zu dem Wachtturm an der Südwestecke zurück, blinkte mit seiner Taschenlampe zweimal nach unten und ließ erneut sein Seil hinunter. Eine Minute später befestigte er ein mit dicken Knoten versehenes Seil am unteren Ende der Stahlspitzen. Er blinkte wieder, wartete ein paar Sekunden und zog dann versuchsweise an dem Seil: Es war straff gespannt – der erste seiner Helfer war auf dem Weg nach oben. Bruno spähte nach unten und versuchte zu erkennen, welcher der beiden als erster heraufkam, aber es war so dunkel, daß er es nicht eindeutig feststellen konnte – aus dem Umfang des Kletterers schloß er allerdings auf Kan Dahn.
Bruno machte sich daran, das Dach einer näheren Untersuchung zu unterziehen. Es mußte eine Luke geben, durch die die Posten zu ihren Wachttürmen kamen, aber weder in den Türmen selbst noch in ihrer Nähe war etwas auch nur Ähnliches zu entdecken gewesen. Aber jetzt sah er den Zugang plötzlich, denn aus einer teilweise verdeckten Bodenluke, die nahe am inneren Rand des Daches, etwa in der Mitte zwischen der Nord- und Südmauer lag, drang ein schwacher Lichtschein nach oben. Die Lukenabdeckung war in einem Winkel von neunzig Grad aufgestellt, entweder um das Licht von oben anzuhalten – was ziemlich unwahrscheinlich schien – oder um die Luke gegen Regen- und Schneefälle zu schützen, was schon wahrscheinlicher schien. Bruno wagte einen Blick um die Kante der Abdeckung herum: Das Licht drang durch ein mit einem Drahtnetz gesichertes, viereckiges Panzerglasfenster, das in eine Falltür eingelassen war und Bruno den Blick in den darunterliegenden kahlen Raum gestattete. Vier Posten hielten sich in dem Zimmer
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