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Clara

Clara

Titel: Clara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Koller
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Schlüssel bestimmt.
Zielstrebig schritt sie darauf zu. In ein paar Minuten würde sie auf Menschen
treffen und alles wäre vorüber. Sie freute sich auf ein Schaumbad, auf
vernünftige Kleider, auf ein Abendessen bei » Mario’s «,
auf ihre Eltern, ihre Freunde. Einfach auf alles, was sie hatte entbehren
müssen. Sie war in Hochstimmung. Ihr Peiniger lag bewusstlos oder gar tot im
Keller. Und das Dorf, von dem er vage gesprochen hatte, konnte nicht weit von
hier entfernt sein.
    Ein Gedanke
schoss ihr durch den Kopf. Sie hätte die Gelegenheit nützen sollen. Ihn in die
Zelle schleifen und abschließen sollen. Sie hätte behaupten können, sich an
nichts mehr zu erinnern. Und ihn da unten verrecken lassen. Womöglich wären sie
erst nach Monaten auf seine Spur gekommen. Aber dennoch. Sie war keine
Mörderin. So weit hatte er sie noch nicht gebracht.
    Clara
schritt zum Tor und zog den Schlüsselbund heraus. Es war garantiert
verschlossen. Sie umfasste mit ihrer linken Hand die Klinke. Ein gewaltiger
Stromstoß fuhr wie ein überdimensionaler Schnellzug durch ihren Leib.
Schüttelte ihn so lange durch, bis alles schwarz vor ihren Augen wurde. Ihr
Körper fiel nach hinten in den Schnee.

 
    8

 
    Ich wachte
mit einem gewaltigen Brummschädel auf. Zehn durchzechte Nächte waren dagegen
ein Kindergeburtstag. Der kalte Beton, auf dem ich lag, hatte meinen Rücken
völlig versteift. Einen Moment lang war ich nicht fähig, mich zu bewegen. Und
einen Moment lang fehlte auch jede Erinnerung. Doch die kam sehr schnell
zurück. Gnadenlos schnell. Clara hatte mich attackiert. Meine Augen brannten
wie Feuer. Ich richtete mich unter großen Schmerzen auf. Mein ganzer Oberkörper
war wund. Und erst mein Kopf. Ich tastete ihn vorsichtig ab. Immer wieder durchzuckte
die Pein meinen Körper. Ich blickte auf meine Hände. Sie waren voller Blut. Ich
hatte offenbar mehrere offene Wunden an Hinterkopf und Schläfe. Dazu kam eine
gewaltige Schwellung unterhalb meines Kiefers. Mein Schädel fühlte sich wie in
einen Schraubstock gespannt an.
    Ich sah mich
um. Die Gittertür stand offen. Der Schlüssel steckte noch. Auch die Stahltür
war unverschlossen. Sie war weg. Verschwunden. Nur die weiße Ratte war noch da.
Mein Plan war fehlgeschlagen. Der Plan, der all mein Tun bestimmte. Bald würde
die Polizei eintreffen. Wie lange war ich eigentlich weg gewesen? Eine Stunde?
Zwei? Oder erst ein paar Minuten? Wo war Clara? War sie schon bei der Polizei?
Oder war sie erst im Dorf angelangt? Oder etwa noch auf der Flucht?
    Ich erhob
mich und ging in die Schleuse. Ich schrie vor Schmerzen, als ich die Leiter hochkroch . Aber es gab jetzt keine Zeit für
Wehleidigkeiten. Warum war die Polizei noch nicht da? Warteten sie etwa draußen
auf mich? Oder warteten sie auf Verstärkung? Oder war Clara etwa zum Tor
gegangen, anstatt gleich über den Zaun zu klettern? Hatte sie den kleinen
Metallkasten daneben nicht bemerkt? Den Metallkasten, in dem sich der
Starkstromschalter befand. Den Schalter, den ich während meiner Anwesenheit
stets umlegte.
    Ich kroch
aus der Luke. Kaum noch Herr über mich selbst. Meine Augen brannten. Tränten.
Ich musste sie immer wieder schließen. Ich schnappte mir eine Taschenlampe. Die
Hüttentür stand ebenfalls offen. Ich machte mich mit einer aufkeimenden
Gewissheit auf den Weg zum Tor. Mit der Gewissheit, dass sie dort lag. Eine
feine Dame kletterte nicht über einen Zaun, wenn sie ein Tor zur Alternative
hatte. Ich stolperte durchs Dickicht. Die Taschenlampe war keine große Hilfe.
Sie schien sehr schwach, und meine angegriffenen Augen taten ein Übriges. So
konnte ich die Spuren am Boden nur schemenhaft erkennen und sie auch nicht
zuordnen. Waren es meine? Oder ihre? Oder von uns beiden? Gleich würde ich es
wissen.
    Ich
erreichte die offene Fläche vor dem Tor und leuchtete sie ab. Da lag sie in
ihrem pinkfarbenen Jogginganzug. Friedlich, wie im Schlaf. Eine große Last fiel
von mir ab. Wie ich sie so betrachtete, erschien es mir beinahe unmöglich, dass
einem solch grazilen Wesen ein derart kraftvolles Attentat gelungen war. Aber
die Schmerzen, die meinen ganzen Körper in Beschlag nahmen, bewiesen es. Der
Überlebensinstinkt förderte ungeahnte Kräfte zutage. Ich trat an Clara heran
und schüttelte sie. Keine Reaktion. Vielleicht hatte der Stromschlag sie
umgebracht. Das war durchaus möglich. Ich musste Clara hier wegschaffen. So
oder so. Ich eilte zur Hütte zurück und holte einen alten Leiterwagen, der

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