Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
davonzumarschieren?
»Glauben Sie, er kommt zurück?«, fragte Parsefall.
»Ich wüsste nich’, warum er das nicht tun sollte«, erwiderte Mrs Pinchbeck. »Seine ganzen Sachen sind hier und er muss erst mal ’ne Vermieterin finden, die wo ihm so schöne Zimmer für fünf Schilling die Woche überlässt. Und ihm auch noch erlaubt, den Wagen draußen anzuketten, obwohl das lästig is’ – aber ich will ja nich’ klagen …«
Fünf Schilling die Woche! Lizzie Roses Magen zog sich zusammen, weil ihr klar wurde, dass sie und Parsefall die Summe jede Woche aufbringen müssten, falls Grisini nicht mehr auftauchte. Sie legte die Hand auf Mrs Pinchbecks Arm. »Hat … hat Grisini die Miete für diese Woche schon bezahlt?«
»Hat er nich’«, sagte Mrs Pinchbeck, »weil die Einnahmen schlecht waren, hat er gesagt. Und von letzter Woche schuldet er mir auch noch ’nen Schilling. Er hat mir versprochen, ihn diese Woche zu bezahlen, plus sechs Pence extra für die Unannehmlichkeiten.«
Sie trank den letzten Schluck Milch und setzte ihre Tasse ab. Mit einem Mal schien ihr Lizzie Roses kummervolle Miene aufzufallen. »Na, sag mal! Du tust dir doch deshalb keine Sorgen machen, oder?«
Lizzie Rose öffnete den Mund, um zu antworten, doch ihre Stimme war nur ein leises Krächzen: »Es ist nur … jetzt gerade … selbstverständlich zahlen wir … nur …«
»Ich setze keine Waisenkinder auf die Straße«, erklärte Mrs Pinchbeck würdevoll. »Das bring ich nich’ übers Herz. Wenn ihr das Geld haben tätet, wär’s was anderes, aber wenn nich’, dann …« Sie überlegte einen Augenblick. »… ihr könnt Luce im Haushalt helfen. Sauber machen …« Sie hob die Hand zu einer hoheitsvollen Geste und lenkte die Aufmerksamkeit auf das verbesserte Erscheinungsbild des Wohnzimmers. »Oder in der Küche helfen … oder mit den Hunden.«
Lizzie Rose stiegen vor Erleichterung Tränen in die Augen. »Ach, Mrs Pinchbeck!«
Mrs Pinchbeck nickte majestätisch. Auf einmal wurde ihr das theatralische Potenzial der Situation in vollem Umfang bewusst. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, breitete die Arme aus und drückte die beiden Kinder an ihre Brust. Parsefall war empört, aber sie hatte ihn überrumpelt. Lizzie Rose hingegen begriff, was die Szene von ihr verlangte, und schlang die Arme um Mrs Pinchbecks Hals. Die Vermieterin roch nach Schweiß, Schweinemalz und Hunden.
»Meine armen kleinen Lämmchen«, säuselte Mrs Pinchbeck. »Ihr armen kleinen Waisen! Ihr habt einen schrecklichen Schock erlitten, aber habt keine Angst!« Ihre Stimme wurde tiefer und kraftvoller, als stünde draußen vor dem Fenster ein Publikum. »Solange Arabella Pinchbeck da ist, sollt ihr nicht auf der Straße landen. Solange Arabella Pinchbeck lebt«, schwor sie, »werdet ihr ein Dach über dem Kopf haben! Und Arabella Pinchbeck höchstpersönlich wird euch Trost spenden und beschützen in eurer Not.«
Parsefall befreite sich aus der Umklammerung. »Welche Not?«
»Jede Not«, erwiderte Mrs Pinchbeck gereizt. »Die, dass ihr euren Vormund verloren habt.«
»Das ist keine Not«, entgegnete Parsefall.
17. Kapitel
Eine überraschende Entdeckung
G risini kehrte nicht zurück. Jeden Morgen beim Erwachen lauschte Parsefall auf die Schritte seines alten Meisters. Und wenn er dann lediglich Lizzie Rose und Ruby hörte, lächelte er still in sich hinein und schlief weiter. Er hatte keine Albträume mehr. Nachdem zehn Tage vergangen waren, gelangte er zu der glücklichen Überzeugung, dass Grisini irgendwo in den Straßen von London verblutet war.
Mrs Pinchbeck und Lizzie Rose waren sich da nicht so sicher. Wenn Grisini genug Kraft besessen hatte, das Haus zu verlassen, so ihre Überlegung, hatte er womöglich auch seine Verletzungen überlebt.
Die Polizei kam ein weiteres Mal vorbei. Die Männer verlangten zunächst Grisini zu sprechen und erkundigten sich dann nach seinem Aufenthaltsort. Mrs Pinchbeck beglückte sie daraufhin mit einer dramatischen Beschreibung seiner Verletzungen, die in einem so grauenvollen Krampfanfall gipfelte, dass der Constable Parsefall ins nächstgelegene Pub schickte, um dort für einen Penny Gin zu holen. Völlig mitgenommen verabschiedeten sich die Männer. Mrs Pinchbeck trocknete ihre Tränen und machte sich auf die Suche nach einem Handwerker, um die kaputte Treppe reparieren zu lassen. Sie spielte mit dem Gedanken, Grisinis Schlafzimmer weiterzuvermieten, konnte sich aber nicht wirklich dazu
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