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Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)

Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)

Titel: Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Amy Schlitz
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durchringen.
    Parsefall fand die Vorstellung verlockend, das freie Zimmer selbst in Beschlag zu nehmen. Noch nie in seinem Leben hatte er in einem bequemen Bett geschlafen. Allerdings befürchtete er, dass es gefährlich sein könnte, in Grisinis Bett zu schlafen. Er beschloss, zu warten, bis Grisinis Leiche gefunden wurde, und freute sich schon auf diese makabre Entdeckung. Ja, er ging sogar so weit, sich das Armenbegräbnis für seinen toten Meister auszumalen. So manches Mal hatte er beobachtet, wie der Leichnam eines armen Schluckers durch London gekarrt wurde, begleitet vom Gejohle der Gassenjungen:
     
    »Da klappert das Gebein
    Über Pflaster und Stein.
    Kein Geleit hinterdrein,
    Muss ’n Bettler sein.«
     
     
    Die Vorstellung, Grisini mit diesem Refrain das letzte Geleit zu geben, war köstlich. Doch die Tage vergingen und seine Leiche tauchte nicht auf. Parsefall hatte allerdings wenig Zeit, über den Verbleib seines Meisters nachzugrübeln. Es gab jede Menge Arbeit. Grisinis Leichnam auf einem Handkarren mochte ein reizvolles Bild sein, aber für das Theater bedeutete der Tod des Puppenspielers einen herben Verlust. Der scharlachrote Wagen war zu sperrig, um von zwei Kindern allein bewegt zu werden, und die einzelnen Darbietungen mussten gekürzt und vereinfacht werden.
    Parsefall machte sich mit Feuereifer daran, die nötigen Veränderungen auszuarbeiten. Zum ersten Mal in seinem Leben bereute er es, dass er nicht schreiben konnte. Es wäre einfacher gewesen, wenn er sich die geplanten Abwandlungen hätte notieren können. So musste er die veränderten Szenen wieder und wieder proben, bis er sie auswendig kannte.
    Missmutig stellte er fest, dass Lizzie Rose nur wenig Eifer zeigte, ihre neuen Rollen einzustudieren. Sie verbrachte lange Stunden damit, Luce, Mrs Pinchbecks Mädchen für alles, zur Hand zu gehen. Jahrelang hatte das schlampige Hausmädchen für Mrs Pinchbeck geschuftet: Schlecht bezahlt und hundemüde hatte sie nie mehr als die Hälfte der aufgetragenen Arbeiten erledigt. Als Mrs Pinchbeck ihr eröffnete, Lizzie Rose würde von nun an im Haushalt helfen, wich der abgestumpfte Ausdruck in Luces Augen einem Glitzern.
    Lizzie Rose hatte sich auch bislang schon um die Hunde gekümmert, weil sie Hunde mochte. Sie hatte auch bislang schon aufgeräumt und sauber gemacht, weil sie Ordnung liebte. Jetzt schleppte sie Kohlen und heißes Wasser treppauf, treppab, schrubbte Nachttöpfe, erneuerte die schwarz glänzende Graphitschicht des Ofens und siebte die Asche. Nach nur zwei Wochen war ihre Kleidung von einem öligen Film überzogen und sie neigte zu Tränen- und Wutausbrüchen. Sobald Parsefall sie anredete, blaffte sie ihn an.
    Parsefall war zu beschäftigt, um sich groß Gedanken darüber zu machen. Er zimmerte aus einem von Grisinis alten Wagen eine neue Theaterbühne, die so klein und leicht war, dass man sie allein fortbewegen konnte. Lange Stunden übte er mit den fantoccini und vervollkommnete seine Technik bei den Szenen mit den Akrobaten und dem magnetischen Skelett. Er glaubte, dass er das Programm mittlerweile ebenso gut beherrschte wie Grisini, mit Ausnahme der tanzenden Ballerina. Seit dem Abend von Grisinis Unfall hatte er das Ballett nicht mehr geprobt. Die Ballerina war verschwunden.
    Eines Nachmittags, als er in Lizzie Roses Schlafkammer nach einem Penny suchte, fand er die Puppe. Zufällig sah er einen winzigen, zur Spitze gestreckten Fuß unter einem Stuhl hervorragen. Parsefall hob die Ballerina auf. Hundezähne hatten im Gesicht und auf der Brust hässliche Spuren hinterlassen. Ein Arm fehlte und der Tüllrock hing wie ein loser Verband herab.
    Parsefall brach in ein Wutgeheul aus. Er wusste haargenau, welcher Hund die Ballerina so zugerichtet hatte. Er klemmte sich die Puppe unter den Arm und stapfte hinunter in Mrs Pinchbecks Wohnung. Die Tür war nur angelehnt. Parsefall stieß sie auf und marschierte hinein.
    Mrs Pinchbeck war ausgegangen, und Lizzie Rose wechselte gerade im Hinterzimmer die Bettlaken. Ruby folgte dem Mädchen wie ein Quälgeist von einer Seite des Betts zur anderen.
    Parsefall hielt die Ballerina hoch. »Du verfluchter Mistköter …«, fing er an, zu schimpfen.
    »Benutz nicht solche Ausdrücke vor mir!«, fuhr ihn Lizzie Rose an.
    »Schau, was Ruby angerichtet hat!« Parsefall schüttelte die Ballerina vor Lizzie Roses Nase. »Sie hat ihr fast den Kopf abgenagt. Einen neuen Arm könnt ich ja noch festmachen, aber das Gesicht is’ völlig futsch. Und

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