Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
wissen. Warum soll ich reden, sagt er, die Weißen wissen doch sowieso immer alles besser. Noch was, Marshal?«
»Kann ich mal in Ihren Wagen sehen?«
»In den Wagen? Aber der ist leer.«
»Reine Routine, Mister Smith.«
»Wenn Sie meinen, Marshal …«
Clarissa wusste nicht, ob sie sich freuen und wieder hoffen durfte, oder ob Betty-Sues Schicksal besiegelt wäre, sobald der Marshal die Plane zur Seite schlug und sie auf der Ladefläche entdeckte. Sollte sie sich bemerkbar machen, indem sie sich noch weiter nach vorn robbte, oder sollte sie unter die Decken kriechen, um das Leben ihrer jungen Freundin nicht zu gefährden?
Noch während sie darüber nachdachte, drang der Knall eines Schusses von der Hauptstraße herüber, und der Marshal war gezwungen, seine Suche abzubrechen. Er rannte wortlos davon, und Smith hatte nichts Eiligeres zu tun, als den Planwagen aus der Stadt zu lenken. Wie benommen lag Clarissa auf den Wolldecken, wegen des Knebels bekam sie kaum noch Luft, und in ihren Augen standen Tränen, in der Gewissheit, sich nun endgültig in der Gewalt der Verbrecher zu befinden. Selten hatte sie sich so verzweifelt und hilflos gefühlt. Die Verantwortung für das Leben ihrer jungen Freundin und gleichzeitig für das Wohlergehen ihres ungeborenen Kindes lag so schwer auf ihrer Seele, dass sie am liebsten eingeschlafen und nie mehr aufgewacht wäre. Die Last war einfach riesengroß, und doch gab es im Moment nichts, was sie tun konnte. Warum hatte sie nur ihren Mann weggeschickt? Selbst in dem seltsamen Zustand, in dem er sich gerade befand, hätte er wahrscheinlich gewusst, was zu tun war.
Widerwillig ergab sie sich in ihr Schicksal. Sie fuhren in südlicher Richtung aus der Stadt, auf den Trail nach Valdez, wie sie nach einem erneuten Blick durch die Plane feststellte. Ihre Entführer mussten sich ihrer Sache sehr sicher sein, wenn sie auf der vielbefahrenen Wagenstraße blieben. Die Gefahr, einem Trupp der US-Armee zu begegnen, war dort wesentlich größer, und sie würden mit ziemlicher Sicherheit einen gewaltsamen Tod finden, falls sie die Dummheit begingen, mit ihren Schusswaffen auf die Soldaten loszugehen. Andererseits kamen sie mit dem Planwagen im Wald kaum vorwärts.
In einem der Roadhouses zu übernachten, hielten aber auch sie für zu riskant. Sobald es dämmerte, lenkte Smith den Wagen zwischen die Bäume und parkte ihn so weit von der Wagenstraße entfernt, dass man sie weder sehen noch hören konnte. Sie versuchte sich aufzusetzen, sank wieder zurück und hörte im nächsten Augenblick, wie sich einer der Männer um die Pferde kümmerte und der andere Holz für ein Feuer sammelte. Wenige Minuten später sah sie den Schein der Flammen durch die Wagenplane schimmern. Er hantierte mit Blechgeschirr, füllte eine große Kanne mit Schnee und setzte wohl Kaffee auf und überließ es dem Indianer, sich ums Abendessen zu kümmern.
Sie hegte bereits den Verdacht, dass man sie ohne Mahlzeit auf dem Wagen liegen lassen würde, als Smith sich auf die Ladefläche schwang und ihre Fesseln durchtrennte. Er zog sie an einem Arm vom Wagen, zerrte sie vom Boden hoch, als sie beim Sprung von der Ladefläche stolperte und hinstürzte, und ließ sie vor dem Feuer in den Schnee fallen. Er zog ihr unsanft den Knebel aus dem Mund und warnte: »Keine Dummheiten!« Raven reichte ihr einen Blechteller mit Bohnen und sagte: »Essen!« Das erste Wort, das sie von dem unheimlichen Indianer hörte. Den Becher Kaffee hielt er ihr wortlos hin.
Clarissa schnaufte ein paarmal durch, bis sie wieder regelmäßig atmen konnte, und machte sich übers Abendessen her. Trotz ihrer misslichen Lage hatte sie großen Hunger. Auch der Indianer aß, ohne sie oder Smith anzublicken, und wirkte so teilnahmslos, als ginge ihn das Geschehen nichts an. Smith hob sich das Abendessen für später auf und setzte sich Clarissa gegenüber auf einen Felsbrocken, das Gewehr über den Knien, um rechtzeitig eingreifen zu können, falls sie auf dumme Gedanken kam. In seinem langen Mantel und der dunklen Pelzmütze mit den Ohrenschützern sah er unheimlich aus, ein Eindruck, der durch seine grimmige Miene noch verstärkt wurde.
Es gab kein Entkommen für sie. Schon der Versuch wäre tödlich gewesen, wenn nicht für sie, dann für ihre junge Freundin. Smith und der Indianer kannten bestimmt eine Möglichkeit, die Entführer von Betty-Sue zu benachrichtigen, dafür hatte Thomas Whittler sicher gesorgt. Vielleicht stimmte, was die Gerüchteküche
Weitere Kostenlose Bücher