Clarissa - Wo der Himmel brennt
Umhang schützten sie gegen die eisigen Böen, die trotz allem über die Böschung in die Niederungen drangen.
Tommy warf noch ein Holzscheit in die Flammen und brummte etwas, das wie »Gute Nacht« klang, bevor er sich zurückzog. Sein Unterstand lag einige Schritte entfernt, und sie konnte ihn lediglich hören, als er sein Nachtlager baute und sich in seine Decken rollte. »Gute Nacht«, erwiderte sie.
An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Mit der Dunkelheit, die überraschend schnell auf das Land sank und düstere Nebelschwaden zwischen die Bäume trieb, kehrten auch die düsteren Gedanken zurück, die sie seit ihrem überstürzten Aufbruch aus Skaguay verfolgten. Bei jedem Knacken eines Astes schreckte sie hoch und war erst zufrieden, wenn sie einen Nachtvogel davonfliegen oder einen Fuchs oder ein anderes Tier davonrennen sah. Die Angst vor dem großen Mann im Büffelfellmantel ließ sie nicht los. Wie ein übermächtiger Krieger sah er mit seinem Gewehr aus, gnadenlos und unnachgiebig, sobald er einen Feind aufgespürt hatte. Er würde sie nicht töten. Frank Whittler wollte sie lebend haben, um seine Rache genüsslich auskosten zu können, und würde ihm nur die volle Summe bezahlen, wenn er sie unversehrt nach Vancouver brachte. Aber er würde sie auch nicht mit Samthandschuhen anfassen und sie möglicherweise noch schlimmer behandeln als Whittler.
Wieder knackte ein Ast vor ihrem Unterstand, oder war es ein Harzknoten, der im Feuer aufgesprungen war? Sie schlug die Decken zurück und blickte zum Feuer. Erleichtert stellte sie fest, dass eins der Holzscheite, die Tommy in die Flammen geworfen hatte, in einem Funkenregen zersplitterte. Doch ihr Puls beschleunigte sich erneut, als ein dunkler Schatten hinter dem Feuer aus dem Boden wuchs, mit ausgestreckten Armen nach ihr griff und gleich darauf mit der Dunkelheit verschmolz. Ein Trugbild, das die züngelnden Flammen in ihre Augen gezaubert hatten. Irgendwo rief eine Eule, und ein Nachtvogel erhob sich aus einem der Bäume und flog mit flatterndem Flügelschlag davon.
Sie ermahnte sich zur Ruhe und kroch noch tiefer unter ihre Decken. Ihre rechte Hand stahl sich in die Manteltasche und umklammerte den Revolver. Der kalte Stahl sollte ihr Sicherheit geben, machte sie aber nur noch unsicherer, als würde die Waffe das drohende Unheil nur noch stärker herausfordern. Sie bezweifelte, dass sie den Hünen in der Büffelfelljacke damit vertreiben konnte, und das Risiko, dass er selbst zur Waffe griff oder ihr den Revolver abnahm und sie mit seinen Fäusten bestrafte, war viel zu groß. Dennoch hielt sie den eiskalten Griff umklammert. Sie konnte auf Elche schießen, wenn sie ihre Hunde bedrohten, und auf wilde Tiere, wenn sie angriffen. Warum sollte sie nicht abdrücken können, wenn ein Mann wie dieser Fremde sie bedrohte?
»Man weiß nie, ob man auf einen Menschen schießen kann, bevor man nicht dazu gezwungen ist«, hatte sie mal gelesen. Nicht in einem ihrer Buffalo-Bill-Magazine, sondern in einem schlauen Buch, das ein Soldat über den Krieg geschrieben hatte. Und dort hatte noch etwas anderes gestanden, erinnerte sie sich plötzlich: »Erst wenn du einen Menschen, der dir nahegestanden hat, verloren hast, merkst du, wie sehr du an ihm gehangen hast.« Der Soldat hatte über seine Mutter gesprochen, die bereits unter der Erde lag, als er aus dem Krieg nach Hause zurückgekehrt war, aber sie bezog den Satz auf ihre Liebe zu Alex, nach dem sie sich so sehr sehnte, dass sie am liebsten ständig seinen Namen gerufen hätte. Er durfte sich nicht aus ihrem Leben gestohlen haben, und der Gedanke, dass seine Leiche irgendwo im Ozean schwamm und von blutgierigen Haien angenagt wurde, trieb sie fast zur Verzweiflung.
Wie schnell sich doch das Schicksal gegen einen wenden konnte. Ihre Freundin Dolly hatte es vor wenigen Monaten erfahren müssen, als ihr Ehemann ermordet worden war. Und sie wartete immer noch auf ihren Mann und war plötzlich wieder auf der Flucht vor Frank Whittler und dem geheimnisvollen Fremden in der Büffelfelljacke. Wenn jemand ihr vor ihrer Hochzeit gesagt hätte, dass Alex spurlos verschwinden und sie nur einen Tag später wieder von Frank Whittler verfolgt würde, von einem Verbrecher wie Soapy Smith erpresst und mit einem mürrischen Indianer wie Tommy vor einem skrupellosen Kopfgeldjäger fliehen müsste, hätte sie ihn für verrückt gehalten. Aber so verhielt es sich tatsächlich, und sie musste sich mit einem grimmigen Lächeln
Weitere Kostenlose Bücher