Clemens Gleich
an nichts erinnern!" Sie hörte die Hysterie in ihrer eigenen Stimme klirren, weil die Fakten auf einen Umstand hindeuteten, den sie fürchtete wie wenig sonst: Sie hatte die Kontrolle verloren – oder wenigstens die Illusion der Kontrolle.
"Du warst auf einmal weg", sagte Fuzz mit der Hand schwach abwinkend. "Wir waren alle völlig weg."
"Habe ich ... mit diesem... habe ich..?"
"Wahrscheinlich bist du die Einzige von uns, die gestern tatsächlich Sex gehabt hat", fasste es Fuzz zusammen.
"Das glaube ich nicht! Ihr wart doch die, die sich an die Mädchen gehängt haben!"
"Ich hatte keinen Sex", sagte Pikmo.
"Ich auch nicht. Glaube ich", sagte Fuzz.
"Ich ganz sicher nicht!", schrie Jianna. "Auf keinen Fall! Ich weiß, dass... ich meine... ich würde das nie machen."
"Bitte schrei nicht so", jammerte Fuzz. "Lasst uns schnell abhauen. Mir ist die ganze Gesellschaft irgendwie unheimlich geworden, seit sie mein Zeug geklaut haben." Pikmo nickte und zog sich an. Jianna weinte und zog sich an. Fuzz beobachtete den Mann, der seinerseits den mächtigsten männlichen Verarbeitungsmechanismus gestartet hatte und schon jetzt anfing, alles zu ignorieren. Er ignorierte den Diebstahl der Frau und ging dann allein dazu über, den gesamten letzten Abend zu ignorieren. Da fiel es auch nicht mehr ins Gewicht, den Diebstahl eines Umschlags voll Weißpilz zu ignorieren.
Pikmo lief zielstrebig den Weg zurück zu ihrem Ankunftsort. Jianna lag in seinen Armen; Fuzz hing huckepack an seinem Rücken. Er traf nur wenige Personen in den Gängen. Die Wenigen sahen weg, wussten nichts, kannten niemanden, hörten aus Prinzip nichts. Eine unheilsschwangere Atmosphäre lag in der Luft, dieselbe, die vor jedem plötzlichen Gewaltausbruch von Eingeborenen überall herrscht, wenn zwei Welten menschlichen Verhaltens aufeinandertreffen und Fehler sich an Fehler reihen. Eine weitere Suche befand Pikmos Ernstfall-Entscheidungssystem in dieser Situation als sinnlos, deshalb stand er nach kurzer Zeit vor dem blitzdurchzuckten Raum mit Fangnetz, der sie in einer besseren Zeit ausgespien hatte. Sein abstrahierender Intellekt erinnerte sich an die Strukturen des Gewebes, und hielt es daher für wahrscheinlich, dass diese Schleuderkammern nahe beieinander lagen. Er wanderte weiter, bis ein weiterer schwacher Lichtschein die nächste dieser Kammern anzeigte. Recht gehabt. Er setzte Jianna sanft ab. Er trat ein. Ein Wächter bedrohte ihn verlegen mit einem Bogen, den Pikmo ihm sofort aus der Hand riss.
"Kodu", knurrte er. Fuzz beobachtete halbbetäubt den Bogen am Ende des Arms, der ihn trug, spürte die Muskeln unter sich arbeiten. Der Wächter zeigte auf die Schleuder und sagte: "Trok"
"Wir wollen nach Kodu", verlangte Pikmo. Er nickte über seine Schulter. "Wir haben bezahlt." Der Wächter zeigte stumm auf einen kleinen Gang am anderen Ende der Höhle. Als merk-würdigen Dank erhielt er ein Lächeln voller Reißzähne.
"Fuzz?", fragte Jianna schwach, als sich ihr Dreiergespann dem Katapult näherte, das sie nach Kodu schleudern sollte.
"Ja?"
"Hast du nicht gesagt, man sollte da nur mit leerem Magen rein?"
"Also, mein Magen ist leer."
"Ist es zu spät für...", begann sie, aber es war bereits zu spät.
Pako stand statuengleich auf der felsigen Lichtung. Ein paar schwache, silbrige Sonnenstrahlen beleuchteten seine verspachtelten Wunden. An ihn gelehnt saß Fidi auf dem Steinboden, aß Beeren und rieb geistesabwesend an ihrer verbundenen Beinwunde. Pi und Telemann standen an einem Rest Asche, einem ehemaligen Lagerfeuer. Pi pulte mit einer Kralle im schwarzen, feuchten Morast. Er fand ein Stück Dreck, das er seinem Navigator zeigte, der bestätigend nickte. Reste einer Ratte. Pi erhob sich und lief dort ins Unterholz, wo jemand darauf eingeschlagen hatte. Auf diese Weise konnte seine Beute nicht sonderlich weit gekommen sein. Er rannte dem geschlagenen Pfad nach. Doch eine leise, wehende, schlimme Vorahnung beschlich ihn, wurde immer stärker, bis er sich bewusst wurde, dass seine Ahnung aus einem dünnen Geruchsfaden bestand, einem Geruch nach Pilzgeflecht. Er rannte los, hörte das Flattern von Telemann dicht hinter, über ihm, bis er an das Loch kam, an dem alle Spuren endeten, und mit ihnen auch gleich die noch kurz vorher aufgeflammte Hoffnung auf einen schnellen Fang. Theoretisch könnte die Fährte eine Falle sein, dachte er. Praktisch lag das jenseits aller Wahrscheinlichkeit. Ruckartig, geradezu zwanghaft spie er Flüche aus, als
Weitere Kostenlose Bücher