Clemens Gleich
schockiert, weil sie genau das eben selbst gedacht hatte. Sie fühlte eine beinah physisch schmerzhafte Ungewissheit um ihren Vater, aber rechtfertigte das, einen Menschen zu foltern? Durfte man das, so für einen guten Zweck? Durfte man wenigstens ein bisschen foltern oder würde es reichen, mit übler Folter wenigstens zu drohen, was Jianna moralisch noch am ehesten verdaulich fand? Sie löste ihr Dilemma auf die einfachste, menschlichste und feigeste Art: Sie überließ es Pikmo, an Infos zu kommen, während sie draußen wartete, um sich mit den kleineren Übeln Gewissensbisse und Schamgefühle herumzuschlagen. Ihr Gewissen meldete sich mit einem arroganten Selbstbewusstsein, dem sie nicht das Geringste entgegenzusetzen hatte, weil es unzweifelhaft im Recht war. Es war immer so einfach gewesen, Folter zu verdammen, und jetzt stand sie hier und ließ es nicht nur zu, sondern war dafür verantwortlich. Wie tief konnte man sinken? Sie würde jetzt da reingehen und... Nein, doch nicht. Was konnte sie jetzt noch ausrichten? Na, alles!, schrie ihr Gewissen. Sie reagierte jedoch nicht direkt darauf, sondern versuchte, es in eine Diskussion zu verwickeln. Sie merkte nicht, dass Tränen über ihr Gesicht liefen.
Irgendwann, es mochte eine Sekunde gewesen sein, eine Stunde oder ein Jahr, stand Pikmo vor ihr. Er sah sie an. Durch ihre feuchten Augen konnte Jianna die Verachtung lesen, die der Fellige für sie empfand. Oder bildete sie sich das ein? Konnte er sowas überhaupt?
"Ich denke, er weiß nichts über Milo oder deinen Vater", unterbrach Pikmo Jiannas Gedankentornado. Sie brach zusammen. Die vorher langsam laufenden Tränen schwollen zu einem Sturzbach an und sie fiel heulend auf die Knie. Nicht wegen der fehlenden Infos, sondern weil sie für wahrscheinlich große Schmerzen war, weil sie schwach war, feige und erbärmlich, weil das gleichgültige Schicksal ihr diese leere, sinnlose Quittung präsentierte. Sie blubberte hilflose Entschuldigungen, Rechtfertigungen hervor, die Pikmo wortlos registrierte. Sein Schweigen war für sie die befürchtete Bestätigung der Verachtung, die sie in ihm vermutete.
"Du hasst mich!", schrie sie auf einmal. "Es tut mir so leid!" Pikmo machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm. Jianna fing an zu schreien, als hätte er sie aufgespießt. Er drückte ihren Kopf in sein Fell und trug sie in die Scheune. Als sie an Jon vorbeikamen, hob Pikmo sanft, fast zärtlich Jiannas Kopf, damit sie den Wächter sehen konnte. Er lag dort unversehrt, wie schlafend. Zumindest fehlten ihm keine Körperteile oder sichtbare Mengen Blut, selbst dann nicht, als der große Fellige in die Hocke ging und Jon Gelder zur besseren Betrachtung ein Stück rollte. Jianna beruhigte sich daraufhin ein wenig. Nur noch leise schluchzend ließ sie sich auf den Heuschober tragen, wo sie weinend wie ein Kind den Rucksack packte. Wie ein hilfloser oder strenger Vater saß Pikmo daneben, völlig still.
Er hatte Gelder hauptsächlich eingeschüchtert, unterstützend mit adrenalintreibenden Schmerzen gearbeitet und mit seinen sensiblen Sinnen nach Lügen geforscht. Die Bewusstlosigkeit lag nichtmal an rauher Behandlung, sondern vielmehr an Pikmos betäubendem Krallengift. Jianna wäre mit diesem Wissen wohl um einiges wohler, doch aus irgendeinem Grund behielt Pikmo diese gewissenssedierenden Fakten für sich. Eine Analyse seines Verhaltens war ihm im Detail nicht möglich, ja, er fand nicht einmal Gründe für derartige Aktionen. Stattdessen trug er den bewusstlosen Wächter sanft hinüber ins Bauernhaus. Er bat den Hofbesitzer, sich um den Mann zu kümmern, der beim Durchsuchen der Scheune vom Heuschober gefallen sei. Zusammen verfrachteten sie den Verletzten in ein Gästebett, dann sagte dieser Fellige einfach "Gute Nacht". Der Bauer rang damit, wie verdächtig er das alles finden sollte, wobei er zu dem Schluss kam, dass es niemandem schaden würde, sich erstmal richtig auszuschlafen, am wenigsten ihm selbst.
Das dichte Licht mehrerer Monde sickerte silbern in ein großes Maisfeld. In diese Szene perfekter Ruhe raste Pi auf allen Vieren, Pflanzen auf dem Weg zerreißend. Trotz seiner Fortbewegungsart machte er Strecke wie ein Reiter, mit unnatürlich schnellen Bewegungen flimmerte er durch die Botanik. Er hatte eine Spur vor sich, einige Verfolger hinter sich und damit das Gefühl, hart am Leben zu segeln. Gierig riss seine Nase Gerüche hin und her, seine Augen suchten mit weiten Pupillen hektisch nach
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