Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
muss, dass mir sein Name nichts sagt. Hat er ein glückliches Leben geführt?«, erkundigte er sich leichthin. »Commander Sandilands?«, fügte er hinzu und wandte sich Joe zu. »Ein Freund von Edgar, wenn ich richtig informiert bin?«
Sein Händedruck war fest und kurz, sein Lächeln warm. Joe rief sich in Erinnerung, dass der Dewan dafür bekannt war, einen hervorragenden Abschluss in Geschichte an der Universität von Oxford gemacht zu haben. Zalim setzte sich unbefangen auf den freien Stuhl neben Joe, goss sich einen Brandy ein und nahm eine Zigarre von Colin O’Connor entgegen. Joe war schon Männern wie ihm begegnet: Männer, die einen Raum allein durch ihre Anwesen-heit erhellen konnten. Es war kein Attribut, das sich ausschließlich unter den Reichen und Hochgestellten fand: Joe erinnerte sich an einen einfachen Soldaten, der völlig unbewusst dieselbe Wirkung ausübte, und zwar auf jeden Unterstand und jedes schmutzige, dunkle Loch von Schützengraben, in dem er landete. Die Bardame im King’s Head in Cheapside könnte eine Abhandlung darüber schreiben - wenn sie denn schreiben könnte. Joes Hausvorsteher im Internat hätte es >Führungsqualität< genannt, aber es steckte mehr dahinter. Es beinhaltete Elemente wie Optimismus und Humor und die Fähigkeit, die Moral jeder Gruppe zu stärken, zu der die Person gehörte.
Joe erinnerte sich an Govinds Bericht über die Abstammungslinie der rajputischen Fürsten. Sie gehörten zur Suryavansa, der Sonnenrasse, hatte Govind gesagt. Überall an den Palastwänden waren Joe Embleme der Sonne aufgefallen: goldene, lächelnde Gesichter, wohlwollend und lebensspendend. Er sah sich das breite, fröhliche Gesicht von Zalim Singh erneut an und erkannte den Abkömmling des Sonnenkönigs.
Joe fiel wieder die Tafel ein, die über der Elefantenpforte im Hof angebracht war. Wie viel überzeugender an einem trüben Tag doch das Gesicht von Zalim Singh im Fenster wirken würde als die asketischen Gesichtszüge seines jüngeren Bruders.
Joe beschloss, Edgar - sobald es schicklich war - zu bitten, ihn über die Hintergründe der vorigen Thronfolge aufzuklären. Wie konnte es angehen, dass eine so offensichtliche Wahl wie Zalim zu Gunsten seines jüngeren Bruders übergangen worden war? Bedauerte Zalim dies? Hatte er nun, da der derzeitige Herrscher schwach wurde und seine Tage gezählt waren, beschlossen, bei der Entscheidung über die nächste Thronfolge seine Hand ins Spiel zu bringen? Da die beiden legitimen Söhne des Maharadschas tot waren, hatte er doch jetzt sicher freie Bahn auf den Gaddi? Joe betrachtete erneut die machtvolle Präsenz in Gold und Weiß an seiner Seite, und ein kühler Schauder lief ihm über den Rücken, als ihm einfiel, dass es ein drittes mögliches Hindernis auf Zalims Weg zum Thron gab. Bahadur. Zalims illegitimer Neffe.
Einen Augenblick lang drehte sich alles in Joes Kopf. Er spürte die Schwindel erregende Desorientierung, die man empfindet, wenn man in eine fremde Kultur katapultiert wird. Das war nicht seine Welt. Hier war nichts wirklich vertraut. Pariser Köche, Lalique-Kristall, Portwein von Dow, das alles war nur die Schaumkrone an der Oberfläche eines zutiefst fremden Gewässers.
Der Lagebericht von Sir George war kurz und wenig zufriedenstellend ausgefallen. »Denken Sie immer an den Vertrag, den wir i8i8 mit dem Fürsten von Ranipur geschlossen haben, Joe ... Hier, ich habe Ihnen eine Kopie fertigen lassen ... Es wird sicherlich Ihr Interesse finden. Ich meine Paragraph acht ... haben Sie ihn? Ich zitiere >Der Maharadscha und seine Erben und Nachfolger bleiben absolute Herrscher ihres Landes und ihrer Untertanen, laut althergebrachter Sitte; die zivile und strafrechtliche Jurisdiktion Großbritanniens soll ihre Vorherrschaft nicht tangieren.< Strafrechtliche Jurisdiktion - hier kommen Sie ins Spiel Joe - oder vielmehr, hier kommen Sie nicht ins Spiel.«
»Danke, dass Sie mich darauf hinweisen, Sir. Ich werde meine Fingerabdruckausrüstung und meine Handschellen zu Hause lassen. Mein Aufenthalt dort ist also rein beratender Natur.«
»Äh ... nicht einmal das, fürchte ich.« Sir George hatte peinlich berührt gewirkt.
»Besitzt der absolute Herrscher so etwas wie eine eigene Polizeitruppe?«, hatte sich Joe vorsichtig erkundigt.
»Ja. Aber rechnen Sie nicht mit deren Unterstützung«, hatte Sir George erwidert. »Sie würden sich nicht einmal selbst als >Polizisten< bezeichnen. Es ist die Königliche Wache. Leibwächter,
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