Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
wie wir uns kennengelernt haben?«
Tessa nahm in einem niedrigen Sessel mit vergoldeten Armlehnen Platz und breitete ihre raschelnden Röcke um sich herum aus. »Ich bin wie eine Verrückte mitten in der Nacht in dein Zimmer geplatzt.«
Jem grinste. »Du bist in mein Zimmer geschwebt und hast mich beim Violinspiel beobachtet.« Er zog die Schraube am Bogen fest, stellte diesen dann ab und nahm behutsam seine Geige aus dem Kasten. »Hättest du etwas dagegen, wenn ich dir jetzt etwas vorspielen würde?«
»Du weißt, dass ich dich immer gern spielen höre.« Und das entsprach der Wahrheit: Tessa hörte Jem sogar dann gern zu, wenn er nur über seine Geige redete, auch wenn sie nicht viel davon verstand. Ohne sich auch nur eine Sekunde zu langweilen, konnte sie stundenlang lauschen, während er leidenschaftlich über Kolofonium, Wirbel und Schnecke sprach, über Bogenführung, Griffpositionen oder darüber, dass die A-Saite schneller riss als andere.
»Wo wei ni xie de«, sagte Jem, hob die Geige an seine linke Schulter und klemmte sie sich unter das Kinn. Er hatte Tessa erzählt, dass viele Violinisten eine Schulterstütze benutzten, auf die er jedoch lieber verzichtete. Daher war an einer Seite seines Halses – dort, wo die Geige ruhte – immer ein Fleck zu sehen, wie ein permanenter Bluterguss.
»Du … hast etwas für mich gemacht?«, fragte Tessa.
»Ich habe ein Musikstück für dich komponiert«, berichtigte Jem lächelnd und begann dann zu spielen.
Voller Verwunderung schaute Tessa zu. Jem setzte schlicht und leise an; seine Hand führte den Bogen leicht über die Saiten und erzeugte einen weichen, harmonischen Klang. Die Melodie erfasste Tessa so kühl und frisch wie klares Wasser, so verheißungsvoll und lieblich wie ein Sonnenaufgang. Sie beobachtete fasziniert, wie seine Finger sich bewegten und der Geige eine wundervolle Notenfolge entlockten. Der Klang bekam mehr Tiefe, während der Bogen immer schneller über die Saiten strich, Jems Unterarm vor- und zurückfuhr und sein gesamter Körper von der Schulter an mit der Bewegung zu verschwimmen schien. Seine Finger glitten leicht auf und ab und die Musik begann, sich zu verändern, wurde voller und tiefer und klang wie grollende Gewitterwolken, die am Horizont eines noch hellen Himmels aufziehen, oder ein Fluss, der sich zu einem reißenden Strom entwickelt. Die Noten zerschellten vor Tessas Füßen, stiegen wieder auf und umfingen sie. Jems gesamter Körper schien sich in Harmonie mit den Tönen zu bewegen, die er dem Instrument entlockte, obwohl Tessa genau wusste, dass seine Füße fest auf dem Boden standen.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, um mit der Musik Schritt zu halten. Jem hatte die Augen geschlossen und seine Mundwinkel zeigten nach unten, als verspürte er Schmerz. Ein Teil von Tessa wollte aufspringen und ihn in die Arme nehmen, aber ein anderer Teil von ihr wünschte sich, er würde nie aufhören, so wunderbar zu spielen. Es erschien ihr, als hätte Jem seinen Bogen genommen und wie einen Pinsel eingesetzt, um eine Leinwand zu schaffen, auf der seine Seele zum Ausdruck kam. Als sich die letzten Noten immer höher schraubten und zum Himmel aufstiegen, bemerkte Tessa, dass ihr Gesicht feucht war. Doch erst in dem Moment, als die Musik endgültig verklungen war und Jem seine Geige absetzte, wurde ihr bewusst, dass ihr Tränen gekommen und die Wangen hinabgelaufen waren.
Langsam legte Jem die Geige wieder in den Kasten und platzierte den Bogen daneben. Dann richtete er sich auf und wandte sich Tessa zu. Sein Gesichtsausdruck wirkte schüchtern, fast verlegen, obwohl sein weißes Hemd schweißgetränkt war und der Puls an seinem Hals raste.
Tessa war sprachlos.
»Hat es dir gefallen?«, fragte Jem. »Ich hätte dir auch etwas anderes geben können…zum Beispiel Schmuck. Aber ich wollte dir etwas schenken, das nur dir gehört. Das niemand anderes hören oder besitzen wird. Und da ich nicht gut mit Worten bin, wollte ich mit Musik ausdrücken, was ich für dich empfinde.« Er schwieg einen Moment und erkundigte sich dann erneut: »Hat es dir gefallen?« Die leichte Senkung am Ende seiner Frage deutete darauf hin, dass er mit einer negativen Antwort rechnete.
In dem Moment hob Tessa das Gesicht, damit er ihre Tränen sehen konnte. »Jem.«
Sofort fiel Jem vor ihr auf die Knie und musterte sie zerknirscht. »Ni jue de tong man, qin ai de?«
»Nein … nein«, erwiderte Tessa mit einer Mischung aus Lachen und Weinen. »Ich bin nicht
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