Cocktails fuer drei
Schoß lag eine Glückwunschkarte aus dem Krankenhaus-Shop, mit einer Wiege, einem Blumenstrauß und einem reizenden Baby. »Meine liebe Maggie«, hatte er zitternd hineingeschrieben. Dann hatte er den Stift sinken lassen, konnte nicht mehr weiter.
Er fühlte sich elend. Nicht von der Krankheit selbst. Die hatte sich heimlich, still und leise eingeschlichen, unbemerkt wie ein leutseliger Bauernfänger. Sie hatte erst einen Zeh in die Tür geschoben, dann den nächsten – und schon hatte sie sich mit dem Selbstbewusstsein eines willkommenen Gastes schnell im ganzen Körper ausgebreitet. Nun besaß sie das Gewohnheitsrecht eines Hausbesetzers. Sie konnte machen, was sie wollte, und ließ sich nicht mehr vertreiben. Sie war stärker als er. Und aus diesem Grunde – weil sie um ihre eigene Macht wusste – hatte sie ihn bisher relativ wohlwollend behandelt. Oder vielleicht war es auch nur Teil ihrer Strategie. Auf Zehenspitzen hatte sie ihn umkreist, sich überall eingerichtet, wo sie Fuß fassen konnte, ohne sich bemerkbar zu machen, bis es dann zu spät war.
Inzwischen hatte er sie allerdings bemerkt. Inzwischen wusste er Bescheid. Von drei verschiedenen Ärzten hatte er sich seine Krankheit ausführlich erklären lassen. Offenbar war allen dreien daran gelegen, dass er jedes Detail genau verstand, als sollte er eine Prüfung zu dem Thema ablegen. Alle drei hatten ihm mit professioneller, einfühlsamer Miene tief in die Augen geblickt und von psychologischer Unterstützung und Hospizen gesprochen – und dann, nach einer Pause, von seiner Frau. Man ging davon aus, dass seine Frau und die Familie es erfahren würden, dass seine Mitarbeiter es erfahren würden, dass die Welt es erfahren würde. Man ging davon aus, dass er die Übermittlung dieser Information übernahm, dass dies seiner Verantwortung oblag.
Und genau diese Verantwortung war es, angesichts derer sich Ralph so elend fühlte, angesichts derer es ihm eiskalt über den Rücken lief und flau im Magen wurde. Die Verantwortung war zu groß. Wem er es sagen sollte. Was er sagen sollte. Wie viele Boote er gleichzeitig ins Wanken bringen sollte. Denn von dem Moment an, in dem er es aussprach, würde sich alles ändern. Er wäre augenblicklich öffentliches Eigentum. Sein Leben – sein begrenztes, schwindendes Leben – würde nicht mehr ihm gehören. Es würde denen gehören, die er liebte. Und genau darin lag das Problem, der Schmerz. Wem gehörten diese letzten Monate, Wochen, Tage?
Wenn er sich jetzt offenbarte, würde er den Rest seines Lebens seiner Frau, seinen drei Kindern, seinen engsten Freunden widmen. So würde es sein. Aber jemanden einzuschließen bedeutete auch, jemand anderen auszuschließen. Wenn er über seine Krankheit sprach, richtete sich das Augenmerk aller auf ihn. Dann würde er seine letzten Monate wie unter einer riesigen Lupe verbringen, ohne Geheimnisse, ohne heimliche Störungen, ohne Überraschungen. Er wäre gezwungen, den Rest seines Lebens auf ehrenwerte, konventionelle Weise zu verbringen.
Krebspatienten waren schließlich keine Ehebrecher, oder?
Ralph schloss die Augen und massierte müde seine Stirn. Diese Ärzte meinten, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen, mit ihren Diagrammen und Durchleuchtungen und Statistiken. Sie hatten keine Ahnung, dass das Leben außerhalb des Sprechzimmers viel komplizierter war. Dass es da Faktoren gab, von denen sie nichts wussten. Dass da Schmerz und Kummer lauerten.
Natürlich hätte er ihnen alles beichten können, hätte er ihnen sein Dilemma anvertrauen können, wie er ihnen seinen Körper anvertraute. Hätte zusehen können, wie sie flüsterten und sich besprachen und ihre Bücher konsultierten. Doch was hätte das für einen Sinn gehabt? Es gab keine Lösung, ebenso wenig wie es für seine Krankheit eine Heilung gab. Es würde in jedem Fall wehtun. Er konnte nur hoffen, dass er den Schmerz so gering wie möglich hielt.
Als er neuen Mut fasste, nahm er seinen Stift. »Ein neues, kleines Licht in dieser Welt«, schrieb er auf die Babykarte. »Alles Liebe und Gute wünscht Ralph.« Plötzlich beschloss er, ihr eine Magnum-Flasche Champagner zu kaufen und das Ganze per Boten zukommen zu lassen. Maggie hatte etwas ganz Besonderes verdient.
Er klebte den Umschlag zu, erhob sich steif und sah auf seine Armbanduhr. Eine halbe Stunde noch. Eine halbe Stunde, um alle Broschüren, alle Infoblätter, alle Beweise verschwinden zu lassen. Um diesen schrecklichen Krankenhausgeruch aus
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