Codex Alera 06: Der erste Fürst
Hunderte, jetzt Tausende. Sie warfen einen stetigen Strom bewegter Schatten auf die Erde. Der Feind hatte sie früher schon benutzt, um Fänger in aleranischen Verteidigungsstellungen abzuwerfen, aber jetzt würde jeder dahingehende Versuch von den Erdelementaren vereitelt werden, die ständig zwischen den aleranischen Truppen patrouillierten und nebenbei erfreulicherweise Ratten, Schleichen und anderes Ungeziefer, das sich auf den Müllhalden in der Umgebung von Legionsstellungen herumtrieb, so gut wie ausgerottet hatten.
Sollten die Vord doch versuchen, die Krähen abermals gegen sie einzusetzen! Calderon war bereit.
»Gräfin«, sagte Fürstin Placida. »Ich glaube mich zu erinnern, dass Fürstin Veradis zu dir gesagt hat, du solltest mindestens zwölf Stunden lang schlafen.«
»Was lächerlich ist«, antwortete Amara. »Es war nur ein gebrochenes Handgelenk.«
»Und mehrere Verletzungen aus Riva, denke ich«, sagte Fürstin Placida.
»Sie hat mir nur gesagt, dass es zwölf sein müssten, weil sie wusste, dass ich sechs brauche«, sagte Amara.
»Eine ganz hervorragende Argumentation.«
»Danke«, sagte Amara feierlich. Nach einem Augenblick setzte sie hinzu: »Ich muss hier sein. Er kann immer noch nicht deutlich sprechen. Es ist wichtig, für ihn zu übersetzen.«
»Ich verstehe«, sagte Fürstin Placida. Sie wandte sich um und sah Amara an. Ihr wunderschönes Gesicht war ruhig, und man merkte ihm die Erschöpfung kaum an, die sie, wie Amara wusste, empfinden musste. »Gräfin … Wenn wir diese Schlacht gewinnen sollten, werden nicht alle von uns sie überleben. Wenn wir verlieren, überlebt keiner von uns.«
Amara wandte den Blick ab, sah auf die Ebene hinaus und nickte.
Fürstin Placida trat einen Schritt vor und legte Amara eine Hand auf die Schulter. »Ich bin genauso sterblich wie jeder andere. Es gibt etwas, das ich dir sagen möchte, falls sich keine weitere Gelegenheit dazu ergibt.«
Amara runzelte die Stirn und nickte.
»Ich verdanke dir mein Leben, Gräfin«, sagte Aria schlicht. »Es war mir eine Ehre, dich zu kennen.«
Tränen brannten in Amaras Augen. Sie versuchte die Hohe Fürstin anzulächeln, trat näher heran und umarmte sie. »Danke. Ich empfinde dasselbe.«
Fürstin Placidas Umarmung war beinahe so kräftig wie Bernards. Amara bemühte sich, nicht aufzukeuchen.
Fürst Placida war herangekommen, während sie miteinander gesprochen hatten, und lächelte kurz, als beide sich ihm zuwandten. »Eigentlich verdanken wir ihr alle unser Leben, meine Liebe.«
Aria zog gebieterisch eine Augenbraue in die Höhe. »Du wirst das hübsche kleine Mädchen aus Parcia nicht in den Arm nehmen, du geiler Bock.«
Placida nickte ernst. »Und schon wieder macht man mir einen Strich durch die Rechnung!«
Etwa zwanzig Fuß weiter hinten auf den Wällen wies ein Legionare nach Südwesten und rief: »Signalpfeil!«
Amara drehte sich um und sah, wie eine winzige lodernde Lichtkugel den Zenit ihrer Flugbahn erreichte und dann zu fallen begann. Tausende von Augen wandten sich dem Feuergewirk an dem Pfeil zu, das so hell brannte, dass es sogar in der Morgensonne deutlich zu sehen war. Niemand sprach, aber schlagartig machte sich Anspannung und unterdrückte Furcht wie ein Blitz auf ganzer Länge der Mauer breit.
»Nun«, sagte Antillus Raucus, »da ist es.«
»Ausgezeichnete letzte Worte«, sagte Phrygius neben ihm. »Wir werden sie auf deinem Grabmal festhalten. Gleich neben: ›Er starb und sprach dabei das Offensichtliche aus.‹«
»Aha«, sagte Fürst Placida, »es geht los.«
»Siehst du?«, sagte Phrygius. »Sandos weiß, wie man stilvoll sein Leben aushaucht.«
»Ich könnte dich mit deiner besten Seidentunika erwürgen, wenn du stilvoll dein Leben aushauchen willst«, knurrte Antillus.
Amara ertappte sich bei einem atemlosen Auflachen, fast bei einem Kichern, und das trotz der Furcht, die sie durchströmte. Die Furcht schwand nicht, aber sie wurde leichter zu ertragen. Ihr Mann, seine Wehrhöfer und die Legionares , die ihm zugeordnet waren, hatten, in den letzten Monaten auch von einigen der mächtigsten Mitglieder der Dianischen Liga unterstützt, unentwegt daran gearbeitet, diesen Ort auf genau diesen Morgen vorzubereiten.
Also wurde es Zeit, dafür zu sorgen, dass sich all die Mühe auch gelohnt hatte.
»Ich muss zu meinem Mann«, sagte Amara fest. »Viel Glück, Aria.«
»Natürlich«, antwortete Aria. »Ich werde versuchen, diese Kindsköpfe hier davon abzuhalten, gegeneinander
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