Codex Alera 06: Der erste Fürst
nehmen muss. Und ich muss mich meinerseits vor ihm in Acht nehmen. Wenn möglich, werde ich einem direkten Zusammenstoß aus dem Wege gehen. Ich habe nicht unbedingt das Bedürfnis, ihm Schaden zuzufügen.« Er sah Isana in die Augen. »Aber solche Dinge pflegen ein Eigenleben zu entwickeln. Und ich werde dafür sorgen, dass das Reich einig, stark und verteidigungsbereit ist.«
Sie neigte ganz leicht den Kopf vor ihm und sagte: »Dann besteht die klügste Vorgehensweise für dich darin, dich dem Testament von Gaius Sextus zu beugen, Fürst Aquitanius.«
»Gaius Sextus ist tot, meine Dame.« Er verbeugte sich zur Antwort ebenso leicht. »Und sieh doch, wohin es uns gebracht hat, dass wir das Testament dieser alten Schlange nicht angefochten haben.«
Aquitanius nickte Araris ein einziges Mal zu und schritt aus dem Zimmer.
Araris schloss die Tür hinter dem Hohen Fürsten und wandte sich Isana zu. Er atmete langsam aus und löste erst danach die Hand vom Schwertgriff.
Isana tappte zu ihm hinüber, und sie nahmen einander in die Arme. Sie hielt ihn sehr dicht an sich gezogen und lehnte die Wange an seine Brust. So blieb sie eine Weile mit geschlossenen Augen stehen. Araris’ Arme legten sich enger um sie, hielten sie, ohne sie zu kräftig gegen die Stahlringe seiner Rüstung zu drücken. Während sie so beieinanderstanden, spürte Isana, wie die kühle Zurückhaltung des Metallwirkens, das er benutzt hatte, um seine Gefühle in Zaum zu halten, abflaute.
Eine ganze Zeit lang gab es nur seine Gegenwart, die Wärme seiner Liebe, so unverrückbar wie ein Felsen, und Isana ließ diese Wärme die Kälte ihrer Sorgen und Ängste zurückdrängen.
Nach einer Weile fragte sie: »Habe ich das Richtige getan?«
»Das weißt du doch«, antwortete er.
»Wirklich?«, fragte sie. »Er hatte einen guten Grund. Er hatte mehrere.«
Araris knurrte. Nach einem Augenblick sagte er: »Vielleicht. Stell dir also eine einfache Frage.«
»Welche?«
»Könntest du eine Lüge leben?«
Sie erschauerte. »Das habe ich schon einmal getan. Um Tavi zu schützen.«
»Ich auch«, sagte er. »Ich war dabei.« Er wies auf sein vernarbtes Gesicht. »Habe einen Preis dafür gezahlt. Und als … als mir die Last von den Schultern genommen wurde, war es das Beste, was mir widerfahren ist, seit Septimus gestorben war.«
»Ja«, sagte Isana leise. Sie hob die Hand und legte sie auf sein narbiges Gesicht, auf das alte Feiglingsmal, das dort eingebrannt war. Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft auf den Mund. »Nein. Ich kann das nicht mehr.«
Er nickte und lehnte die Stirn gegen ihre. »Dann ist das also geklärt.«
Sie schwiegen eine Weile, aber am Ende fragte Isana: »Was hat Aquitanius damit gemeint, dass du die falsche Frau verteidigt hättest?«
Araris stieß einen nachdenklichen Laut aus. »Etwas, das nach den Sieben Hügeln geschehen ist«, sagte er. »Septimus hatte persönlich einen der Kavallerieflügel bei der Verfolgung des Feindes angeführt, nachdem wir auf dem Schlachtfeld den Sieg davongetragen hatten. Der Führungsstab der Rebellen war auf ein halbes Dutzend verschiedener Wehrhöfe geflohen, wo … wo man nicht gut zu den Sklaven gewesen war.«
Isana erschauerte.
»Besonders einer … Ich habe seinen Namen vergessen. Langer, schlaksiger Bursche, ein Graf. Er konnte gut mit der Klinge umgehen, und seine Gefolgsleute haben bis in den Tod gekämpft, um ihn zu verteidigen. Aldrick, Septimus, Miles und ich konnten ihre letzte Verteidigungslinie nur gemeinsam durchbrechen, und auch so ist es uns nur knapp gelungen.« Er seufzte. »Es wurde sehr unschön, bis es dann vorbei war. Und dieser Graf hatte sich einige Lustsklavinnen in seinen Gemächern gehalten. Eine davon hatte sich umgebracht, als sie ihn hatte sterben sehen, und die anderen waren nicht in viel besserer Verfassung. Keine von ihnen war älter als sechzehn, und ihnen allen waren Züchtigungsringe angelegt worden.«
Isana wurde plötzlich übel.
»Wir haben das Gesinde des Wehrhofs größtenteils lebend gefangen genommen, und einer von ihnen hatte ihnen die Ringe angelegt. Also nahmen wir sie drei der Mädchen ab, aber das vierte …« Araris schüttelte den Kopf. »Sie war vielleicht vierzehn. Sie hatte den Ring getragen, seit sie zehn gewesen war. Und sie war …«
»Verstört?«, schlug Isana sanft vor.
»Gebrochen«, antwortete Araris. »Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit anderen Leuten umgehen sollte, wenn sie sich ihnen nicht anbot. Sie konnte sich
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