Colin Cotterill
einen Schritt vorwärts, und Siri wol te ihm eben den Bleistift aus der Hand nehmen, da stürzten sich die Vietnamesen auf den Jungen. Sie schlugen und traten auf ihn ein. Siri war entsetzt. Er versuchte die Männer zurückzuhalten, aber sie waren stärker.
Durch das Loch in Hoks Brust konnte er das Gesicht des Jungen sehen. Er lag im Sterben, und nicht nur das: Er veränderte seine Gestalt. Das kindliche Gesicht löste sich auf, und darunter kam das Gesicht eines alten Mannes zum Vorschein. Die Leibwächter wichen zurück, und der Mann lag, jetzt mit der Uniform der Volksbefreiungsarmee bekleidet, tot in einer Blutlache. Neben ihm lag eine zerbrochene Spritze; Siri hatte sie irrtümlich mit einem Bleistift verwechselt. Die Säure, die sie enthalten hatte, blubberte und zischte auf dem Gehsteig. Die Passanten, an denen sie vorbeigekommen waren, scharten sich um den Toten. Jeder von ihnen hielt eine Spritze in der Hand, von deren Nadel Säure tropfte.
Siri schreckte aus seinem Traum und hatte plötzlich Angst vor der Stil e und der Dunkelheit, die ihn umgab. Es schien kein Mond. Obwohl er nichts sehen konnte, hatte er das Gefühl, dass Leute im Zimmer waren. Er spürte, wie sie sich bewegten.
»Ist da jemand?«
Keine Antwort. Er schlug das Moskitonetz zurück und hielt den Atem an. Er konzentrierte sich auf die Finsternis, versuchte vertraute Schatten, Bewegung auszumachen, konnte aber noch nicht einmal die Umrisse des Fensters erkennen.
In der Ferne schwol der Hundechor al mählich an, gequältes, schril es Jaulen.
Und aus diesem Chor kamen die Stimmen. Er wusste, wem sie gehörten. Sie waren zu dritt und skandierten auf Vietnamesisch: »Der schwarze Keiler ist noch da. Der schwarze Keiler ist noch da.«
Wieder wurde Siri wach. Diesmal riss ihn der Wecker aus dem Schlaf.
Draußen war es noch dunkel. Laut den Leuchtziffern der Uhr war es tatsächlich erst halb fünf. Er hatte das Gefühl, die ganze Nacht kein Auge zugemacht zu haben. Das Moskitonetz war zurückgeschlagen, und die Insekten hatten sich an seinem Blut gemästet.
Er zog sich umständlich an, schnappte sich seine Tasche und tappte wie in Trance nach unten. Er leuchtete sich mit der Taschenlampe. Knarrend ging die Haustür auf, und der Lichtstrahl glitt den Gartenweg entlang. Saloop war nicht im Dienst, und niemand im Haus schien Siris Fortgehen zu bemerken.
Er zog die Tür hinter sich ins Schloss und inspizierte sie im Schein der Lampe. Sie war etwa zwölf Zentimeter dick und hatte vermutlich prächtig ausgesehen, als das Haus noch gehegt und gepflegt wurde, stets geölt und frisch lackiert. Jetzt war sie hässlich und verzogen.
Als der Lichtstrahl der Taschenlampe auf die beiden Löcher in Brusthöhe fiel, lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Keine Frage, das waren Einschusslöcher. Die Kugeln hatten das massive Teakholz nicht durchschlagen. Hätte sich Siri nicht im rechten Augenblick geduckt, hätten sie jetzt mit Sicherheit in ihm gesteckt.
10
UNTERWEGS NACH KHAMMOUAN
Die Jak-40 hob schwerfäl ig ab wie eine überfütterte Gans. Wie die beiden sowjetischen Piloten im Cockpit machte sie keinen sonderlich vertrauenerweckenden Eindruck. Siri wol te lieber gar nicht wissen, welche Mauscheleien dahintersteckten, dass dieses Trumm von einem Flugzeug samt seiner Originalbesatzung rund um die Uhr laotischen VIPs zur Verfügung stand. Auch konnte er sich nicht vorstel en, womit sich die Piloten diese harte Strafe eingehandelt hatten. Trotzdem kutschierte es seit einem halben Jahr Generäle und Minister kreuz und quer durchs ganze Land, dank der freundlichen Unterstützung der Sowjetunion.
Siri war der einzige Passagier. Als er an Bord kam, deutete der Copilot grunzend auf eine Sitzbank und den Sicherheitsgurt. Und damit hatte sich der Bordservice auch schon erledigt. Trotzdem war Siri froh, al ein zu sein. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Er hatte im Gefecht gestanden, hatte oft genug unter Beschuss gelegen. Aber ein Mordversuch war etwas völ ig anderes. Er zielte nicht nur auf ihn persönlich, sondern war obendrein grob unhöflich. Siris Wut war größer als seine Angst.
Auf dem Weg zum Flughafen hatte er zweimal haltgemacht. Erst hatte er Nguyen Hong geweckt und ihn zur Vorsicht gemahnt. Er riet ihm, sicherheitshalber al es aufzuschreiben und in einem Umschlag in der Botschaft zu hinterlegen, der geöffnet werden sol te, fal s ihnen etwas
»zustieß«.
Dann war er bei Dtui vorbeigefahren. Sie war schon wach. Ihrer Mutter ging
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