Commissaire-Llob 1 - Morituri
nicht mehr, seit ein Trio von Bärtigen an
seiner Halsschlagader Maß genommen hat, um ein
passendes Messer für ihn auszusuchen.
Jetzt ist er traumatisiert, der Leutnant. Traut sich
kaum in die Nähe des Fensters. Am Abend, wenn
er das Licht zum Schlafengehen löscht, hat er der-
maßen Schiß, daß man das Klappern seiner Gallen-
steine hören könnte.
Da sitzt er also hinter seiner Schreibmaschine,
mit tiefen Schatten unter den Augen seines Pierrot-
gesichts. An den Fingern hat er schon keine Nägel
mehr, aus seinem Blick ist jeder Ausdruck gewi-
chen, der ganze Kerl sieht zum Steinerweichen
mitleiderregend aus.
„Weißt du, was den Burschen passiert, die sich
zu viele Sorgen machen, Lino? Sie bekommen
glatzköpfige Kinder.“
„Ich weiß nicht einmal, ob ich morgen noch von
dieser Welt bin.“
„Bade dich nur in deinem Opferlamm-
Pessimismus. Wen rührt das heute noch … Hast
du den Bericht gelesen?“
„Ja.“
„Bilanz?“
„Zwei Schulen, eine Fabrik, eine Brücke, ein
Stadtpark und dreiundvierzig Strommasten zer-
stört.“
„Menschliche Verluste?“
„Drei Polizisten, ein Soldat auf Urlaub, ein Leh-
rer und vier Feuerwehrleute.“
„Warum die Feuerwehrleute?“
„Die Leiche, die sie gerade wegbringen wollten,
war vermint.“
„Nun ja …“
Ich krame eine Akte hervor, die seit Urzeiten in
den Tiefen der Schublade verschimmelt. Ein paar
lose Blätter, das Photo eines Spitzbärtigen in af-
ghanischer Soutane und eine Hexenjagd, die im
schlimmsten Fall nie mehr aufhören wird.
Ich betrachte den Guru auf dem Photo: achtund-
zwanzig Jahre. Nie in der Schule gewesen. Immer
arbeitslos. Messianische Reisen quer durch Asien,
reißerische Predigten und ein unversöhnlicher Haß
auf die ganze Welt. Und ausgerechnet der spielt
sich als Weltverbesserer auf: vierunddreißig Mor-
de, zwei Bände voller Fatwas, einen Harem in je-
dem Untergrundnest und jeder seiner Finger ein
Zepter.
Wahrhaftig, es sind die Erleuchteten, die das
Feuer der Hölle schüren.
Ich kannte einmal einen kleinen Dealer. Einen
ganz und gar abstoßenden Dreckskerl, in der Tod-
sünde war er so in seinem Element wie die Filzlaus
in der Unterhose eines Hippies. Heute hat er eine
abgesägte Schrotflinte in der Hand und einen Ko-
ranvers auf den Lippen und rächt sich munter an
allen, die ihm einmal Schwierigkeiten gemacht
haben.
Ob es den verehrten Imamen gefällt oder nicht,
falls dieses Miststück je im Paradies stranden soll-
te, lasse ich mich von einem Klempner kastrieren.
Beim Pöbel gilt er trotzdem als Märtyrer. Seit der
Terrorismus im Namen der Religion antritt, wissen
die kleinen Leute nicht mehr wohin. Alles, was
nach Fundamentalismus riecht, verunsichert sie.
Wie seit jeher lassen sie die Tragödie über sich
ergehen und halten sich nicht weiter damit auf.
„Nach mir die Sintflut!“ sagt schon das alte
Sprichwort. Und keine Einsamkeit ist schlimmer
als die Einsamkeit des Schiffbrüchigen.
Vielleicht werde ich eines Tages wieder sorglos
durch die Straßen meiner Stadt schlendern können.
Wird die Nacht mir im Schlaf zärtliche Geheimnis-
se offenbaren. Werde ich Kinder um mich haben
und auf der Nase eine Sonnenbrille, um mich wie
auf Kreuzfahrt zu fühlen. Werde ich es mir wieder
erlauben können, ins Theater zu gehen, über meine
Mißgeschicke zu lachen, oder auch nur meine
Milch beim Krämer um die Ecke zu holen, ohne
mich vor jedem Gaffer zu fürchten. Aber ich glau-
be nicht, daß ich meine Mitbürger je wieder mit
den gleichen Augen wie früher ansehen werde.
Etwas hat das Band zum Heimathafen für immer
gekappt. Groll werde ich keinen hegen, dafür ist in
meinem Schmerz kein Platz, aber die Schmeiche-
leien der süßesten Mädchen könnten mich nicht
mit denen versöhnen, die ich heute für meine mög-
lichen Totengräber halte.
Ich werde für meine Freunde nur mehr lauwarme
Gefühle aufbringen, und der Nachbar vom selben
Stock wird mir so fremd vorkommen wie ein Indi-
aner in Wyoming.
Die Überlebenden dieses Wahnsinns von einem
Krieg werden durch meine Gedanken spuken wie
Geister, die aus ihren Gräbern verbannt sind und
vor denen sich die Häuser verschließen, die ir-
gendwo zwischen Himmel und Erde schweben, zu
schuldbeladen, um sich Gott zu nähern, und zu
verrufen, um sich zu den Menschen zu gesellen.
Nichts wird mehr sein wie zuvor. Die Lieder, die
mich einmal begeistert haben, werden nicht mehr
zu mir vordringen. Die
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