Commissario Montalbano 09 - Die dunkle Wahrheit des Mondes
auch nicht weiter nachgegangen bin, weil sie mich nicht interessierte. Aber wegen dieser Geschichte wurde er gezwungen, nicht mehr länger zu praktizieren.« Das war eine absolute Neuigkeit. Über die musste mehr herausgefunden werden. Montalbano stand auf.
»Ich danke Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit. Das ist selten, glauben Sie mir. Ich denke aber, dass ich Sie wohl noch einmal sehen muss.«
»Wie Sie meinen, Commissario. Aber tun Sie mir einen Gefallen.«
»Zu Ihrer Verfügung.«
»Das nächste Mal kommen Sie bitte nicht so früh. Sie können gern auch nachmittags kommen. Mein Mann, das habe ich Ihnen schon gesagt, weiß alles. Entschuldigen Sie, aber ich bin eine Langschläferin.«
Mit einer guten halben Stunde Verspätung stand er nun vor der Villa, in der sich Angelo Pardos Wohnung befand. Er konnte es ruhig angehen lassen, denn die Einbestellung beim Polizeipräsidenten war verschoben worden. Er sprach über die Sprechanlage. Michela öffnete ihm. Als er die Treppe hochstieg, kam ihm das Haus noch ganz leblos vor, keine Stimme, kein Laut. Wer weiß, ob Elena andere Hausbewohner getroffen hat, wenn sie Angelo besuchte. Michela erwartete ihn an der Tür. »Sie sind spät dran.«
Montalbano bemerkte, dass sie ein anderes Kleid trug, auch dieses von der Art, dass es das Verbergbare verbarg. Auch die Schuhe waren andere.
Dann bewahrte sie also in der Wohnung des Bruders eine ganze Kleiderausstattung auf?
Michela verstand, was Montalbano durch den Kopf ging. »Heute Morgen bin ich frühzeitig zu mir nach Hause gefahren. Ich wollte wissen, wie Mama die Nacht verbracht hat. Und die Gelegenheit habe ich genutzt, um mich umzuziehen.«
»Hören Sie, Sie müssen heute Vormittag zum Ermittlungsrichter Tommaseo. Ich hatte überlegt, Sie zu begleiten, aber im Grunde halte ich meine Anwesenheit dort für sinnlos.«
»Was will dieser Herr von mir?«
»Ihnen ein paar Fragen über Ihren Bruder stellen. Darf ich mal telefonieren? Ich will Tommaseo Bescheid geben, dass Sie auf dem Weg sind.«
»Wo muss ich denn hin?«
»Nach Montelusa, zum Gericht.«
Er betrat das Arbeitszimmer, und sofort spürte er etwas Merkwürdiges, eine Veränderung. Aber er konnte nicht ausmachen, was es war. Er rief Tommaseo an und teilte ihm mit, dass er bei dem Treffen mit der Frau nicht anwesend sein würde. Der Ermittlungsrichter war natürlich erfreut darüber, auch wenn er es nicht zeigte. Michela wartete schon im Korridor.
»Geben Sie mir bitte die Schlüssel zu dieser Wohnung?« Einen Augenblick lang war sie unsicher, dann aber öffnete sie die Handtasche und reichte ihm den Bund. »Und wenn ich noch mal herkommen muss?«
»Dann kommen Sie ins Kommissariat, und ich werde Ihnen die Schlüssel geben. Heute Nachmittag, wo kann ich Sie da erreichen?«
»Zu Hause.«
Er schloss die Tür hinter Michela ab und lief ins Arbeitszimmer.
Seit jeher hatte Commissario Montalbano ein eingebautes fotografisches Auge. Wenn er, sagen wir, ein Zimmer betrat, das neu für ihn war, vermochte er mit einem Blick nicht nur die Anordnung der Möbel zu fotografieren, sondern auch die Gegenstände, die auf ihnen standen. Und er konnte sich an sie erinnern, auch wenn Zeit verstrichen war.
Er blieb an der Tür stehen, lehnte sich mit der rechten Schulter an den Türrahmen, und augenblicklich entdeckte er, was nicht mehr so war wie vorher. Am Abend zuvor hatte das Köfferchen aufrecht auf dem Boden neben dem Schreibtisch gestanden. Es gab gar keinen Grund, es wegzuschieben, es war nicht im Weg, auch dann nicht, wenn man das Telefon benutzen musste. Mithin hatte Michela es genommen, um nachzusehen, was drin war, und hinterher hatte sie es nicht wieder so hingestellt wie vorher.
Er fluchte. Ach du Scheiße, was für einen ungeheuren Fehler hatte er da gemacht! Er hätte diese Frau nicht allein in der Wohnung des Ermordeten lassen dürfen. Er hatte ihr alle Zeit der Welt gegeben, alles verschwinden zu lassen, was den Bruder in irgendeiner Weise hätte kompromittieren können.
Er nahm das Übernachtungsköfferchen, legte es auf den Schreibtisch, das Köfferchen ließ sich sofort öffnen, es war nicht abgeschlossen. Im Innern eine große Anzahl von Papieren mit Briefköpfen verschiedener Pharmaunternehmen, Illustrationsblätter von Medikamenten, Werbeplakate, Bestellblöcke, Quittungen.
Auch zwei Kalenderkladden waren darunter, eine große und eine kleine. Er schaute zuerst die große durch. Die Adressenliste war gespickt mit Namen und Telefonnummern von
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