Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
vorne in den Schankraum zu ihrem Bruder, der den letzten Stammgast vor ein paar Minuten mit sanftem Druck hinauskomplimentiert hatte. Sie schob ihm das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr hin. »Da, der Rest.« Ludwig nickte. »Spül ab und geh dann nach oben«, befahl sie ihm. »Ich seh im Keller nach, wie viel Speck noch da ist, und sperr die Toiletten draußen ab. Gut Nacht.«
Katie schaute ihrem Bruder nach, wie er unbeholfen und leicht schwankend in die Spülküche tappte. Ich muss aufpassen, er trinkt mittlerweile fast so viel wie unsere Gäste, dachte sie. Männer, vor allem Betrunkene, konnte sie nicht ertragen, es sei denn, sie zahlten. Auch ihren Bruder duldete sie nur widerstrebend. Wenn er so weitertrinkt und ausfallend wird wie der Vater früher, dann setz ich ihn raus, schwor sie sich.
Ihr Vater … Sie schaute an ihren Fettmassen herunter. Wenn sie an den Alten dachte, kam es ihr immer noch sauer hoch, so als ob es gestern gewesen wäre. Vor vierzig Jahren hatte ihr Vater mit der Mutter einen Hof unterhalb der Mutspitze bewirtschaftet. Als ihr Vater vom Grundbesitzer rausgeworfen worden war, weil der Hof wegen seiner zunehmenden Sauferei immer mehr verwahrloste, zogen sie runter nach Meran. »Unten im Tal gibt’s immer Arbeit, auch für so eine Null wie deinen Vater«, hatte ihre Mutter gesagt. »Außerdem hast du’s dann mit der Schule leichter und kommst mehr aus dem Haus.« Dabei hatte ihre Mutter sie mit einem Seitenblick gestreift, und dann schnell wieder weggeguckt. Die Schlampe hatte ganz genau gewusst, was die zweite Lieblingsbeschäftigung ihres Vaters war, die gleich nach dem Saufen kam.
In Meran hatte der Vater die Familie mit Gelegenheitsarbeiten einigermaßen durchgebracht, seine Trinkerei wurde aber immer schlimmer. Katie hatte daran nichts auszusetzen gehabt, sondern gehofft, dass der Alkohol ihn schnell erledigen würde. Leider war das nicht passiert. Sie hatte volle drei Jahre durchhalten müssen. Gottlob kriegte er in den letzten Jahren keinen mehr hoch, sodass ihr wenigstens das volle Programm erspart blieb.
Das Einzige, was noch zählte, war das Geld. Ihre Mutter hatte ein paar Kröten zur Seite gelegt, von denen ihr Vater zum Glück nichts gewusst hatte. Vermutlich sollte es eine Art Wiedergutmachung sein. Von dem Geld hatte sie sich schließlich dieses Kellerloch hier leisten können.
Katie stützte sich schwer auf eine Stuhllehne und funkelte den großen Porzellanjesus an, der an dem Kruzifix in der Ecke hing. Was hatte sie früher geheult und gebettelt, dass er den Vater verschwinden ließ oder sie zumindest beschützte, irgendwie. Passiert war nichts. Seither war Katie klar, dass die ganze Beterei bloß Brimborium war. Sie hatte das Kruzifix nur deshalb behalten, weil es sich in ihrem Lokal gut machte. Es passte halt zu dem Klischee, das sich die Fremden von Südtirol zurechtgezimmert hatten. Wenigstens geschäftlich hatte der Porzellanjesus in letzter Zeit einen guten Job gemacht.
Entschlossen packte sie ihren Schlüsselbund und steuerte auf die Tür zum Hinterhof zu. Draußen war es stockdunkel. Sie drückte den Schalter neben der Tür, der an die Glühbirne über den Außentoiletten angeschlossen war. Trotzdem wäre sie beinahe über den leblosen Körper auf dem Boden gestolpert. Ihr entfuhr nur ein helles »Uihh«. Geschrien hatte sie das letzte Mal, als sie vierzehn Jahre alt gewesen war.
ZWEI
Sonntag, 1. Mai
Commissario Luciano Pavarotti, Ermittlungsleiter der Polizia di Stato in der Quästur Bozen, zwängte sich aus der Tür seines Dienstwagens. Trotz der relativ kurzen Fahrt von Bozen nach Meran hatte die Fahrt eine gefühlte Ewigkeit gedauert. Eine halbe Stunde lang war er nur mit Schrittgeschwindigkeit vorwärtsgekommen. Jetzt fühlte er sich vollkommen steif, und sein Kreuz tat ihm weh.
Zwei Uniformierte vertraten sich neben der Weinstube Renzinger die Beine und rauchten. »He, Commissario, heute schon gesungen?«, schallte es ihm von dem Empfangskomitee entgegen.
Prompt stieß sich Pavarotti den Kopf an der Türkante an und fluchte laut. Er fragte sich, warum er sich nach so vielen Jahren immer noch nicht an die Kalauer gewöhnt hatte, die auf seine Namensgleichheit mit dem verstorbenen Tenor anspielten. Zu seinem Überdruss hatte er inzwischen auch die körperlichen Proportionen mit seinem Namensvetter gemeinsam.
Er rieb sich den schmerzenden Kopf. »Aha, ein Teil der örtlichen Staatsmacht«, knurrte er. »Kann ich darauf hoffen, dass ihr irgendwann
Weitere Kostenlose Bücher