Con molto sentimento (German Edition)
Zwar hatte derjenige ein Bein um Federico geschlungen. Doch das Gewicht passte einfach nicht. Alexis‘ Oberschenkel waren muskulöser und schwerer.
Es musste wohl Patrice sein, dachte Federico, als er sich auf seine andere Seite drehte. Patrice murmelte etwas im Schlaf, aber wachte glücklicherweise nicht auf, drehte sich um, schniefte einmal und seufzte.
Es war absolut ruhig in dem Appartement, kein Lichtschein war unter der Schlafzimmertür zu erkennen, kein Geräusch zu hören. War Alexis ausgegangen? Aber wohin? Mit Sicherheit war er keinen drauf machen gegangen. Vielleicht ging er eine Runde um den Block, um seine Gedanken zu ordnen. Federico stand behutsam auf, er wollte Patrice wirklich nicht aufwecken. Es war gut, dass der Junge schlafen konnte. Nichts war heilsamer und nichts hatte Patrice jetzt dringender nötig.
Federico trat auf den kleinen Balkon hinaus, der direkt an das Schlafzimmer angrenzte und setzte sich dort auf einen der Stühle, legte die Füße auf die Sitzfläche des anderen ab. Er lehnte den Kopf zurück und blickte in dieses milchige, verwaschene Meer aus Sternen. Schade, dass die Lichter der Großstadt diese natürliche Pracht auslöschten. Er war einmal mit Alexis und dessen Verwandten für ein paar Nächte im Norden Englands campen gewesen, weit abseits der Zivilisation. Nie hatte Federico einen schöneren Sternenhimmel erlebt. Er sah es jetzt noch genau vor sich: Die tiefe Schwärze des Alls, die feinen weißen Fäden der Milchstraße, die gleißenden Planeten und die vielen, vielen Sternbilder, die mit uralten Geschichten verknüpft waren. Selten, dass Federico so berührt gewesen war von einem Anblick. Er, der sonst gar nichts mit Religion am Hut hatte, hatte in den Nachthimmel hinaufgeblickt und bei sich gedacht: So viel Schönheit, so viel wohlgeordnetes Chaos, das konnte doch nicht alles Zufall sein. Aber dann dachte er wieder an sein eigenes Schicksal oder an das von Patrice und sein Glaube an eine göttliche, alles umfassende, gütige Macht wurde wieder jäh zerschmettert.
Warum hatte denn Patrices Mutter sterben müssen? Warum hatten Federicos Eltern sterben müssen? Warum hatte ihn Gott als kleiner Knirps auf so eine harte Probe gestellt?
Ehe es sich Federico versah, rollte ihm eine Träne über die Wangen.
» Mams... Paps... «, flüsterte er. Die Worte klangen seltsam auf seiner Zunge. Er hatte seit seiner Kindheit nicht mehr Flämisch gesprochen. Bis jetzt war ihm nicht einmal mehr klar gewesen, dass er seine Eltern so bezeichnet hatte. Er wusste so wenig über sie. Klar, er kannte ihre Namen, ihre Geburtsdaten, dass sie beide Architekten gewesen waren. Seine Mutter hatten seinen Vater bei einem Auslandssemester in Brüssel kennen und lieben gelernt. Viel mehr war es jedoch nicht. Federico war noch immer belgischer Staatsbürger, ein letzter Rest, der von seiner tragischen Kindheit erzählte.
»Pst«, machte es leise hinter ihm und Federico wandte sich um. Ein grauer Schatten trat auf den Balkon hinaus. Es war Alexis, der die Schiebetür leise schloss und sich dann neben ihn ins Freie hinaus setzte.
Federico streckte die Hand nach ihm aus. Mit der größten Selbstverständlichkeit verschränkten sich ihre Finger. Die Wärme, die von Alexis‘ Hand ausging, war tröstlich, versichernd und voller Geborgenheit. Da störte ihn nicht einmal mehr der frische Nachtwind.
»Ich war bei Claude«, meinte Alexis im Flüsterton.
»Und?«
Federico konnte das Schulterzucken förmlich spüren. Er seufzte: »Abwarten?«
»Ja, wir müssen abwarten. Um Patrice tut es mir leid.«
»Ja...« Federico rückte näher an Alexis heran. Genug. Sie hatten sich genug den Kopf über andere Leute zerbrochen. Es wurde Zeit, dass es wieder um sie selbst ging. Heute Abend war es noch komisch gewesen, so neben Alexis zu sitzen, aber jetzt... Jetzt wollte er dem anderen so nahe wie nur möglich sein.
Alexis schlang einen Arm um Federicos Schultern. Er wusste nicht, wie lange sie einfach nur dasaßen und in den Nachthimmel blickten. Schließlich kam es wieder über Federico und er begann zu schluchzen. Er war lange Jahre her, dass er so unter dem Tod seiner Eltern litt. Natürlich hatte er oft an sie gedacht, mal mehr, mal weniger. Wie er es gegenüber Patrice auch geschildert hatte. Als Teenager hatte er häufiger deswegen geweint, aber seitdem nicht mehr. Heute Nacht war es, als ob er dies nun alles nachholen müsste.
Zum Glück
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