Confusion
dabei, diesem Ort, der fast in Sichtweite war, den Rücken zu kehren und (aller Wahrscheinlichkeit nach) dem Tod entgegenzugehen. Das war das Allerergreifendste, was Jack je außerhalb einer Theaterbühne erlebt hatte, es trieb ihm die Tränen in die Augen und beruhigte sein Gemüt.
Also schlich er vor Jeronimo davon, begab sich in den Schein des Feuers und erzählte den Landstreichern (nachdem er ihnen zunächst gut zugeredet hatte), er sei ein Ire, der zusammen mit verschiedenen anderen Papisten in Liverpool von einer Presspatrouille aufgegriffen worden sei (das klang so wahrscheinlich und vernünftig, dass es schon banal war) und dass er und ein paar von den anderen Matrosen, bevor sie nach Amerika lossegelten, die Jungfrau von Buenos Aires, ein Seemannsheiligtum innerhalb der Stadtmauern, aufsuchen wollten (das war Jeronimo zufolge auch sehr glaubhaft) und dass es für den, der sie in die Stadt hineinschleusen könnte, ein paar Reales geben würde. Dieses Angebot wurde begeistert angenommen, und binnen einer Stunde waren Jack, Moseh, van Hoek und Jeronimo (ohne Armbrust) in Sanlúcar de Barrameda.
Jeronimo und van Hoek machten sich zu einem verrauchten und lärmenden Viertel direkt am Hafen auf, während Jack und Moseh den Berg hinaufgingen, um dort eine feinere Gegend zu erkunden. Moseh wusste nicht genau, wohin sie gehen mussten, und so durchstreiften sie verschiedene Straßen und schauten durch die Fenster weißer Gebäude, bis sie schließlich vor einem stehen blieben, an dem eine goldene Merkurstatue prangte. Jack musste sofort an Leipzig denken und richtete unwillkürlich den Blick nach oben. Zwar gab es hier keine Spiegel auf Stäben, aber was er sah, war das Ende einer Zigarre, das erst rot glühte und dann in einer Wolke von ausgestoßenem Rauch verschwamm – ein Beobachter auf dem Dach. Auch Moseh sah es, packte Jack am Arm und zog ihn weiter. Doch als sie an einem der Fenster vorbeieilten, wandte Jack sein Gesicht dem Licht zu und erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine geschmolzene Erinnerung in seinem syphilisvernarbten Gedächtnis: ein kahler Kopf, der sich über Windungen von Fett erhob und dräuend über einem Tisch aufragte, an dem mehrere – zumeist blonde – Männer beim Essen saßen und sich unterhielten.
Nachdem sie sich ein Stück von dem Haus entfernt hatten, sagte Jack: »Ich habe Lothar von Hacklheber da drinnen gesehen. Oder vielleicht war es auch nur ein Gemälde von ihm, das an der Wand hing, damit er der Tafel vorsteht – aber nein, ich bin sicher, dass ich gesehen
habe, wie sein Kiefer sich bewegte. Kein Maler hätte diese kanonenkugelartige Stirn, diesen wilden Blick einfangen können.«
»Ich zweifle nicht an deinen Worten«, sagte Moseh. »Van Hoek muss also recht gehabt haben. Lass uns auf die Suche nach den anderen gehen.« Moseh wandte seinen Schritt den Berg hinunter.
»Was war der Zweck dieser Erkundung?«
»Bevor du dir Todfeinde schaffst, ist es klug zu wissen, wer sie sind«, erwiderte Moseh. »Jetzt wissen wir es.«
»Lothar von Hacklheber?«
Moseh nickte.
»Ich hätte gedacht, unser Feind wäre der Vizekönig.«
»Außerhalb von Spanien hat der Vizekönig keine Macht. Das trifft für Lothar wohl kaum zu.«
»Warum hat denn das Haus Hacklheber etwas damit zu tun?«
Moseh antwortete: »Stell dir einmal vor, du lebst in einem Haus in Paris. Du hast einen Wasserträger, der einmal am Tag kommen soll. Normalerweise tut er das, manchmal aber auch nicht. Manchmal sind seine Eimer voll, manchmal halb leer. Aber dein Haus ist groß und braucht ständig in kleinen Mengen Wasser.«
»Aus diesem Grund haben solche Häuser Zisternen«, sagte Jack.
»Spanien ist ein großes Haus. Es braucht dauernd Geld, um Waren von anderen Ländern zu kaufen, wie zum Beispiel Quecksilber aus den Minen von Istrien und Korn aus dem Norden. Sein Geld trifft aber nur ein Mal im Jahr ein, wenn die Schatzflotte vor Cadiz – oder ehemals hier – die Anker wirft. Die Schatzflotte ist wie der Wasserträger. Die Banken von Genua und Österreich dienten über Hunderte von Jahren hinweg...«
»Als Geldzisternen, ich verstehe«, sagte Jack.
»Ja.«
»Aber Lothar von Hacklheber ist, wenn ich mich nicht täusche, kein genuesischer Name«, sagte Jack.
»Vor ungefähr sechzig Jahren war Spanien eine Zeitlang bankrott, was bedeutete, dass die Bankiers von Genua nicht mehr das bezahlt bekamen, was ihnen geschuldet wurde, und schwere Zeiten durchmachen mussten. Als Folge davon kamen
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