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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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nächsten Morgen entdecken wollte, dass sie auf der Sandbank auf Grund gelaufen war.
    Die Brigg des Vizekönigs, die hilflos im strudelnden Wasser der Strömungen tanzte, wurde über die Sandbank hinweg in den Golf von Cadiz geschwemmt, ohne dass irgendjemand in der Stadt geahnt hätte, was hier passierte.
    In dieser Nacht war Halbmond, und während sie in den Golf hineintrieben, sah Jack zu, wie das Gestirn der längst verschwundenen Sonne gen Westen nachjagte, mit glühender Unterseite, einer silbernen Schüssel gleich, die auf einer Seite vom strahlenden Brand einer Esse erhitzt wird. Es war in zerrissene und ausgefranste Wolkenfetzen gehüllt, die ihm etwas von seinem Licht stahlen: ein Wetterumschwung vom Meer her, was schlecht für sie war, da es bedeutete, dass ihre Verfolger morgen Wind haben würden.
    Und einen Vorboten davon konnte ihre Beute jetzt schon wahrnehmen: eine kühle Brise direkt vom Ozean her. Matrosen hatten bereits ihre Plätze auf dem Oberdeck eingenommen, um die Segel zu hissen und, so gut es ging, in Fahrt zu kommen. Jack spürte, dass die Spanier jetzt freier atmeten; die Fahrt den dunklen Fluss hinunter, zwischen ankernden Schiffen hindurch und über die dicht unter der Wasseroberfläche liegende Sandbank hinweg war gefährlich gewesen, aber jetzt hatten sie viel Wasser unter dem Kiel und dazu ein bisschen Wind. Nach kurzer Vorbereitung konnten sie ein paar Segel hissen, sich vorsichtshalber, um nicht auf Grund zu laufen, etwas weiter von der Stadt entfernen und dort die Morgendämmerung abwarten.
    Ihnen war nicht aufgefallen, dass die Galiot, nachdem sie ihnen die Langruder abrasiert hatte, in den Golf hinausgerudert war und sich in ein völlig anderes Schiff verwandelt hatte. Zwischen den Bänken in ihrem Mittelgang war, zu einem etwa zehn Yard langen Bündel zusammengerollt, ein ungewöhnlich großer Teppich verstaut gewesen. Doch dieser Teppich war inzwischen (wenn alles nach Plan gelaufen war) über Bord geworfen worden und trieb auseinandergerollt irgendwo im Golf von Cadiz. Sein ehemaliger Inhalt – der Stamm einer geradfaserigen
Tanne von den Hängen des Atlasgebirges, zu einer glatten Nadelform gehobelt, durch Bandeisen verstärkt und mit einer Rammspitze mit Widerhaken versehen – war nach vorne gebracht und an den Bug der Galiot montiert worden, ungefähr wie ein Bugspriet, aber näher an der Wasserlinie und nicht so mit Stagen und Stampfstöcken beladen. Diese eiserne Rammspitze sollte genau jetzt, mit fünfzig Tonnen Galiot hinter und einer spanischen Schatzbrigg direkt vor sich, mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Knoten über die Wellen gleiten.
    Der allgemeine Plan sah vor, die Brigg am Hinterschiff zu rammen, also Richtung Heck, wo sie nicht ganz so dicht mit großen Kanonen bestückt war. Der einzige Nachteil bestand darin, dass die fünf Enterer, die am Vordersteven hingen, nicht sehen konnten, wie die Galiot näher kam (soweit sie bei dem matten, milchigen Licht des untergehenden Halbmonds überhaupt etwas sehen konnten). Doch das plötzliche Geschrei am anderen Ende des Schiffs gab ihnen den deutlichen Hinweis, dass es jetzt gerade passierte. Sie warteten noch einen Moment, während Schritte sich entfernten, und schwangen dann endlich ihre Enterhaken hoch und über die Reling. Jeder der Männer zog an seinem Seil, bis er spürte, dass die Widerhaken in irgendetwas hängen blieben (unmöglich zu wissen, was oder wie robust es war), und vertraute sich, nachdem er zur Probe mehrmals fest daran geruckt und dann seine Fußschlaufe verlassen hatte, dem Seil an. Da der Rumpf sich nach oben hin stark verbreiterte, hingen sie alle weit davon entfernt über dem Wasser und schwangen wie Pendel hin und her.
    Jacks Arme gaben ein wenig nach, denn in der frischen Meeresbrise waren sie steif geworden, und er rutschte ein Stückchen abwärts, bevor er schließlich ein Bein um das Seil schlang und es zwischen Schienbein und Knöchel einklemmte. Von da an war es nur noch Seilklettern, etwas, was er schon viel zu oft in seinem Leben gemacht hatte. Kein Wunder also, dass er der Erste von dem ganzen Enterkommando war, der über die Reling taumelte und heilfroh war, wieder Holz unter den Füßen zu haben.
    Er stand jetzt auf dem Teil des Schiffes, den man Bug nennt, und schaute nach achtern. Das Mondlicht fiel waagerecht ein, und so glichen die Masten, das Tauwerk und ein paar stehende Gestalten Säulen aus Silber, das Deck dagegen war ein schwarzes Loch, vollkommen unsichtbar.

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